Die letzte Flucht

Mit Jens Voigt geht kein überragender Radsportler, aber ein sehr beliebter

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Schluss, aus, vorbei. Der dienstälteste Profi des Straßenradsports steigt vom Rad. In den USA feierte der Berliner Jens Voigt seinen Abschied. In Übersee also, weil dort seine Fans zahlreicher sind, die »The Jensie« mit seinen knackigen Statements im Herbst seiner Karriere begeisterte. In den USA aber auch, weil sein Teamsponsor dort beheimatet ist und Voigt schon jetzt eine gute Figur bei der Eröffnung von Radläden und Sponsorenevents dies- und jenseits des Atlantiks macht. Solche Aktivitäten werden auch Teil seines Lebens nach dem Radsport sein, erzählt er »nd«.

Den Ausstieg aus der Profilaufbahn beging der 42-Jährige standesgemäß: mit einem Fluchtversuch auf seiner allerletzten Etappe bei der USA Pro Challenge. Voigt gewann unterwegs auch den letzten Zwischensprint seiner Karriere. Und er erhielt wegen der zahlreichen Ausreißversuche bei dieser einwöchigen Rundfahrt durch die Rocky Mountains die Ehrung als kämpferischster Fahrer.

Kämpferisch war Voigt immer. Als »unermüdlich, loyal, unzerstörbar und immer gut drauf« beschreibt er sich selbst rückblickend. Der Mecklenburger war kein Riesentalent wie der zwei Jahre nach ihm und eine knappe Autostunde entfernt in Rostock geborene Jan Ullrich. Er war kein sensationeller Kletterer, kein Superzeitfahrer, und wenn es um Sprintentscheidungen zwischen mehr als drei Leuten ging, war gewöhnlich jemand anderes schneller. Also musste er seine Chance in der alleinigen Flucht nach vorn suchen.

Einige Jahre war er der Ausreißerkönig des Fahrerfeldes. Unermüdlich eben. Und obwohl er in 99 Prozent der Versuche vor dem Zielstrich wieder eingefangen wurde, wirkte er selten frustriert. Stets war er für einen flotten Spruch zu haben. Nach guten Tagen wie seinen beiden Etappensiegen bei der Tour de France, als er hinreißend die Glückshormone beschrieb, »die durch deinen Körper schießen, wenn du das Ziel vor dir siehst«. Aber auch an schlechten Tagen, wenn der Kopf als General mehr verlangte als die Kavalleristenbeine hergeben wollten. »Shut up legs« (»Schnauze, Beine!«) lautet Voigts wohl berühmtester von vielen Sprüchen.

Wer hörte ihm nicht gerne zu, wenn er davon berichtete, wie ihn in den Alpen Fieber plagte, er den Anschluss ans Peloton verlor und über die berühmten Pässe Madeleine und Galibier seinen einsamen Kampf gegen die Karenzzeit führte. Nur noch die Kameramotorräder waren bei ihm. Denn zwei Tage vorher hatte er bei dieser Tour im Jahr 2005 noch das gelbe Führungstrikot getragen. »Ich kam mir vor, als würden Geier über mir kreisen. Aber den Gefallen auszusteigen, wollte ich denen nicht tun«, beschrieb er seine Qualen. Er kam tatsächlich bis zum Zielort Briançon - mit 41 Sekunden zu viel Rückstand auf den Etappensieger. Die Jury nahm ihn aus dem Rennen. Voigt kommentierte trocken: »Das ist Radsport. So sind die Regeln.«

Fasst man seine Karriere in Zahlen zusammen, kommt man auf etwa 875 000 Trainings- und Wettkampfkilometer seit dem neunten Lebensjahr, 1500 Renntage, davon 340 bei der Tour de France, 110 Stiche nach Sturzverletzungen und einige Ersatzteile aus Titan in seinem Körper.

Begonnen hat alles in Mecklenburg, mit einem funkelnagelneuen Kinderrennrad der Marke Diamant, das Übungsleiter der BSG Traktor Dassow in die Schule brachten - und so den Wirbelwind Voigt überzeugten, seine überschüssigen Energien in den Radsport zu stecken. »Ich war ein wildes Kind und hatte in der Schule manche Schwierigkeiten. Heute hätte man mich wohl von einer Therapie zur anderen geschickt, bis ich tatsächlich eine Macke bekommen hätte. Damals hat man das mit Sport zu lösen versucht«, erzählt Voigt. Welch Paradox: Ausgerechnet der Sport, der sich später einen schlechten Ruf als Pillen-, Spritzen- und Blutbeutelsport erwarb, galt in Voigts Kindertagen als robuste Alternative zur Medikamenten gestützten Defizitbeseitigung.

Geht es um Doping, entwirft Voigt von sich gern das Bild des Alleinfahrers, der mit einem betrugsaffinen Peloton rein gar nichts zu tun hatte. Er habe niemals mitbekommen, wie in seinen Teams unter den Chefs Bjarne Riis und Johan Bruyneel gedopt wurde, versicherte er mehrfach. Ex-Teamkollegen wie Tyler Hamilton und Jörg Jaksche können da nur lachen. Voigt selbst ist niemals erwischt worden - eine reife Leistung in 18 Profijahren und bei 17 Tour-Teilnahmen. Bei der sogenannten Festina-Tour, seinem Debüt in Frankreich 1998, war die Menge des Urins in der von ihm aufbewahrten Probe zu gering für eine Nachanalyse. Ob das ein Glück für ihn ist, weil so kein positiver Befund möglich war, oder doch Pech, weil so ein starker Beleg für Verzicht auf Doping ausfällt, weiß wohl nur der Fahrer allein.

Mit Voigt tritt eine besondere Figur des Radsports ab: Einer, der sich nicht einordnen lässt, der kein überragender Fahrer war, aber doch ein bekannter. Einer, der selbst in der Boomzeit des deutschen Radsports immer bei ausländischen Mannschaften blieb. Und einer, der die Hochdopingphase seines Sports ohne Makel überstand. So erinnert er irgendwie an Forrest Gump: Ein Mann, der über alle Schauplätze der Welt rennt und, obwohl er sich selbst gar nicht als unberührbar einschätzt, doch seltsam unberührt erscheint von allem, das ihn umgibt.

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