Ein »ausländisches Laster«

Der Musikethnologe Stephen Amico über den Wettstreit von Homophilie und Homophobie in Russland

  • Lesedauer: 4 Min.
Der 1962 in New York geborene Musikethnologe Stephen Amico ist Professor für Media Studies und Musik an der Universität von Amsterdam. Seine jüngste Veröffentlichung ist das Buch »Roll Over, Tchaikovsky! Russian Popular Music and Post-Soviet Homosexuality«. Darin untersucht Amico, warum viele russische Popstars mit schwulen Themen und Identitäten spielen, obwohl »Homopropaganda« offiziell verboten ist. Das Gespräch mit Amico führte Kevin Clarke.

nd: Homophobie in Russland ist ein Phänomen, das viele im Westen mit Bestürzung registrieren. Warum sind religiöse Gruppen und ihre schwulenfeindliche Ideologie so mächtig in einem Land, das über Jahrzehnte offiziell atheistisch war?
Amico: Es geht bei Fragen des Glaubens im heutigen Russland nie nur ums »Göttliche«, sondern ums Symbolische. Für viele Menschen ist ein Bekenntnis zur Orthodoxie ein Zeichen, dass sie sich zur vergangenen Glorie Russlands bekennen. Andere suchen in der Nähe zur Kirche eine eigenständige Identität, weil sie meinen, sich vom Westen abgrenzen zu müssen, der überwiegend katholisch und protestantisch geprägt ist.

Wieso hatten schon Kommunisten ein Problem mit Homosexuellen?
Nach der Revolution war Russland sozial progressiver als alle europäischen Nachbarn in Bezug auf Minderheiten. Die politischen Reformer stellten die traditionelle Familie in Frage, sie sahen darin eine Form der Unterdrückung, besonders von Frauen. Damals wurde die Gesetzgebung neu formuliert, wodurch es nicht nur zu einem neuen Umgang mit Scheidung und Abtreibung kam, auch Homosexualität wurde entkriminalisiert. Als Stalin an die Macht kam, verschoben sich die Akzente. Es ging ihm um die Konsolidierung der Macht, den Aufbau einer gut gerüsteten Armee. 1933 wurde Homosexualität erneut kriminalisiert. Während des Zweiten Weltkriegs nahm die Antipathie gegen Homosexuelle stark zu, verschärft durch Gorkis Attacken, der sagte: »Rottet die Homosexuellen aus und der Faschismus ist verschwunden!« Natürlich wurden Homosexuelle auch deshalb verteufelt, weil sie sich nicht fortpflanzen »wollten« und damit den Staat um Kinder beraubten. Im Kontext von Russlands gegenwärtiger demografischer Krise - die Geburtenrate und die Lebenserwartung von Männern ist die tiefste in der gesamten industrialisierten Welt - sind diese Aspekte wichtig zum Verständnis der Homophobie.

Wird Homosexualität immer noch als bürgerlicher »Hedonismus« gesehen?
Es gibt bei vielen Russen die Überzeugung, Homosexualität sei ein »ausländisches Laster«. Statt von »bürgerlichem Hedonismus« spricht man von »nicht-traditioneller sexueller Orientierung« - ein Euphemismus, der in Russland weit verbreitet ist. Man erkennt darin eine weitere Manifestation des Eindringens der westlichen Konsumentenkultur, die »traditionelle russische Werte« zerstören will. Viele schwule Russen sehen sich zwar als Teil der globalen »Gay Culture«, sie sind aber sehr kritisch gegenüber dem Westen. Das betrifft auch die ihrer Meinung nach unnötige Politisierung von sexueller Identität, die für sie eine Privatangelegenheit ist. Viele lehnen deshalb Gay-Pride-Paraden ab.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die »sexuelle Orientierung einer relativ großen Anzahl von Popkünstlern von der Klatschpresse in Frage gestellt« wird. Trotzdem sind diese Künstler beliebt und erfolgreich. Wie ist das möglich?
Das ist natürlich die zentrale Frage meines Buchs. Ich sehe da einen Wettstreit zwischen Homophobie und Homophilie in Russland, eine Abscheu, die unausrottbar mit Sehnsucht verbunden ist. Russen lieben das Theatralische, dazu zählen viele auch »farbenfrohe Auftritte« von Drag Queens. Ich möchte nicht ausschließen, dass solche Acts und die Gendergrenzen sprengenden Lieder vieler Popstars auch für eine nicht-traditionelle sexuelle Orientierung stehen, die ansonsten total unterdrückt wird und hier ein Ventil findet.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Vermutlich ist Boris Moiseevs »Golubaia luna« (Blauer Mond) der Song, den die meisten als ersten schwulen Popsong Russlands ansehen. Im Text geht es um zwei Brüder, einer hat der Liebe zu Frauen abgeschworen, um sich in der Einsamkeit des Himmels zu verlieren. Das Wort »goluboi«, was übersetzt »helles Blau« bedeutet, ist der Slang-Ausdruck für schwul.

Ist es eine clevere Strategie, Popmusik als Ventil zu nutzen?
Das würde die Paranoia der Regierung bestätigen, die zur »Homopropaganda«-Gesetzgebung geführt hat. Es würde auch den Nationalisten zuspielen, die meinen, die Unterhaltungsindustrie sei ohnehin von einer »Schwulenmafia« kontrolliert. Man sollte besser sagen, dass viele Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen in der Musikindustrie arbeiten, wo eine andere Offenheit herrscht.

Ihr Buch behandelt Popmusik, was hat Tschaikowsky, der im Titel auftaucht, damit zu tun?
Der Titel bezieht sich auf einen Chuck-Berry-Song und die Aufforderung, das Alte »raus zu rollen« und das Neue reinzulassen. Nicht, dass man Tschaikowskys Musik verbannen müsste. Aber die lächerliche Karikatur, die man aus seinem Namen gemacht hat, finde ich schockierend. Trotz gegenteiliger Zeugnisse wird der Mythos aufrechterhalten, dass er sich wegen einer »falschen« Beziehung zu einem jungen Mann umgebracht habe. Damit ist er ein typischer tragischer Homosexueller. Ein Beispiel dafür, was man riskiert, wenn man sich solchen fleischlichen Genüssen hingibt. In meinem Buch geht es um lebende, atmende, schwitzende, tanzende, singende Subjekte, die für einen neuen Umgang mit Sexualität stehen. Als Alternative zu den »Körpern« der Vergangenheit, die mit Tod, Kastration und Krankheit assoziiert werden. Somit müssen wir auch das alte Tschaikowsky-Bild entsorgen.

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