Abschied als Aufbruch

Folge 43 der nd-Serie Ostkurve: Nach jahrzehntelanger Planung bekommt der FC Rot-Weiß Erfurt ein neues Stadion – und hängt damit den Erzrivalen noch weiter ab

  • Michael Kummer, Erfurt
  • Lesedauer: 7 Min.
Historisch gewachsene Wut in Erfurt: Die Zeiten, als Jenas Kavallerie alles flach ritt, sind zwar vorbei. Die denkbar größten Rivalen sind der FC Rot-Weiß und der FC Carl Zeiss aber immer noch.

Am 8. Oktober ist es soweit: Das Erfurter Steigerwaldstadion, vormals Mitteldeutsche Kampfbahn und Georgij-Dimitroff-Stadion genannt, weicht nach 83 Jahren dem Neubau einer Multifunktionsarena - und wird feierlich verabschiedet. Der FC Rot-Weiß, seine Fanclubs und die Ultras bereiten sich seit Wochen darauf vor. Und für das Abschiedsspiel konnte kein geringerer Gegner als der FC Groningen gewonnen werden, ein ganz spezieller Gast der Erfurter Fußballgeschichte.

Die Erfurter Fangemeinde weiß sehr zu schätzen, wen die Klubführung da engagiert hat. Nur einmal durfte beziehungsweise konnte de FC Rot-Weiß in einem europäischen Cupwettbewerb mitspielen. 1954, im Jahr des Gewinns der ersten Meisterschaft, gab es noch keinen Europapokal. Ein Jahr später, Erfurt war erneut DDR-Meister geworden, scheute sich die Sportführung des kleinen Landes aus Angst vor einer Blamage, seinen Fußballmeister für diese internationalen Spiele zu melden. Das über Jahrzehnte andauernde Erfurter Mittelmaß führte dazu, dass der FC Rot-Weiß erst 1991, und nur aufgrund der Übergangsregelung von der NOFV-Oberliga in das gesamtdeutsche Bundesligensystem als damaliger Zweitligist, im UEFA-Pokal starten konnte. Und das Los für die erste Runde wollte, dass der Gegner FC Groningen hieß. Nach zwei 1:0-Siegen traf Erfurt in der zweiten Runde auf Ajax Amsterdam und schied erwartungsgemäß gegen die von Louis van Gaal trainierte Startruppe aus.

Der für die Erfurter Fans größte aller denkbaren Rivalen, der FC Carl Zeiss Jena, kann dagegen mit 87 Europacupspielen, darunter die Finalteilnahme 1981 im Europapokalfinale der Pokalsieger, auf eine deutlich imposantere internationale Vergangenheit zurückblicken. Doch woher rührt diese besonders starke Rivalität der beiden Thüringer Mannschaften? Die geografische Nähe erklärt nur einen kleineren Teil der aufgeheizten und erbitterten Feindschaft der Anhänger. Der größere Teil hat historische Ursachen, die in der Struktur des DDR-Fußballs lagen.

Die Anhänger des FC Carl Zeiss nahmen den FC Rot-Weiß als ernsthaften Rivalen erst nach 1990 wahr. Vorher waren die dominierenden Mannschaften der DDR-Oberliga die Hauptgegner für die Jenaer, in den 60ern vor allem der FC Vorwärts Berlin, ab den 70ern der BFC Dynamo, die SG Dynamo Dresden, der 1. FC Magdeburg und in den 80ern dann auch der 1. FC Lok Leipzig. Nicht zufällig machten diese als Schwerpunktklubs vom damaligen DTSB privilegierten Mannschaften von 1968 bis 1990 die Meisterschaft in der DDR unter sich aus. Die vielfachen Jenaer Erfolge waren auch dadurch zustande gekommen, weil in Jena wesentlich früher systematisch und mit Hilfe der Universität an der Trainingsmethodik gearbeitet wurde. Hinzu kam die lokale Nähe zum VEB Jenapharm, dem Hersteller des muskelaufbauenden Oral-Turinabols, welches konspirativ durch die Funktionäre des FC Carl Zeiss genutzt wurde. Ergebnis war, so der Journalist Christoph Dieckmann: »Im heimischen Abbe-Sportfeld ritt Jenas Kavallerie alles flach«.

Der historische Hauptgrund für die erbitterte Rivalität zum FC Carl Zeiss Jena aus Erfurter Sicht ist allerdings woanders zu suchen: Der Jenaer Klub war über mehr als zwei Jahrzehnte so erfolgreich, weil er es verstand, systematisch Spitzenspieler abzuwerben bzw. zu halten. Als Ende der 50er Jahre Georg Buschner in Jena als Cheftrainer eingesetzt wurde, professionalisierte sich die Fußballabteilung des damaligen SC Motor schlagartig. Der Einsicht, dass im Vergleich zu den anderen Oberligastandorten die Stadt Jena und der Bezirk Gera zu klein waren, folgte der Grundsatz der regelmäßigen Verstärkung durch Spitzenspieler anderer Mannschaften. Basis dafür war die Leistungsfähigkeit des Trägerbetriebs. Heute würde man das einen Hauptsponsor nennen. Und in Jena war einer der größten Betriebe der DDR ansässig, der über immense materielle, finanzielle und soziale Mittel zur Unterstützung der eigenen Fußballmannschaft verfügte: der VEB Carl Zeiss Jena, später der Stammbetrieb des gleichnamigen Kombinats.

Und so fuhren die Fußballfunktionäre mehrfach nach Erfurt. Die interessanten Spieler wurden über die Vorteile eines Wechsels nach Jena aufgeklärt und kaum einer der Umworbenen konnte sich dem entziehen: ein Handgeld für den Wechsel, ein überdurchschnittlicher Monatslohn beim VEB Carl Zeiss (ohne Arbeitspflichten, trotz anderslautender Propaganda vom Amateursport in der DDR), eine Anstellung der Ehefrau und manchmal auch der Eltern, teils zweite Gehälter aus schwarzen Kassen, eine Neubauwohnung, als Stammspieler eventuell gar ein Haus der Carl-Zeiss-Stiftung, Urlaubsplätze an der Ostsee, bevorzugte Käufe von Autos und anderen hochwertigen Konsumartikeln, die berufliche Qualifizierung mit viel Unterstützung und teils vereinfachten Prüfungen ... Der Spieler stimmte zu, der Fußballverband ebenso - und dem FC Rot-Weiß blieb nichts anderes übrig, als den Spieler abzugeben.

Vor allem in den 60er Jahren wurde dies praktiziert, so bei Heinz Hergert (1962), Erwin Seifert (1963), Rainer Knobloch (1964) und Udo Preuße (1966). Als dann 1976 mit dem Nationalspieler Rüdiger Schnuphase und ein Jahr später mit Lutz Lindemann die damalig besten Erfurter nach Jena wechselten, war die rot-weiße-Fanseele endgültig am Kochen: Es wurden Eingaben geschrieben, im Stadion Flugblätter verteilt und Parteigruppen im VEB Optima, dem Trägerbetrieb der Erfurter, drohten ihren Austritt aus der SED an. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war für die Erfurter Anhänger der Hauptgegner der Klub aus der Saalestadt.

Der tiefen Abneigung der Erfurter Anhänger gegenüber dem FC Carl Zeiss haben auch die Veränderungen nach 1989/90 nichts anhaben können, im Gegenteil. Die historisch gewachsene Wut hat sich in mehr als zwei Jahrzehnten Nachwendezeit zu einer ritualisierten, aber immer noch mit großem Herz gezeigten Abneigung gegen den Erzrivalen entwickelt. Wenn ein Erfurter Spieler davon spricht, dass er »die verbotene Stadt« selbstverständlich noch nicht besucht hat, wird er auf Lebenszeit ins rot-weiße Fanherz geschlossen. Und diese Herzen sind leidenserprobt, mit Ausnahme der Saison 2004/2005 spielt Erfurt seit 1992 drittklassig, gute Spieler werden immer noch abgeworben, nun jedoch in alle lukrativen Himmelrichtungen. In der dritten Liga ist Erfurt zwar etabliert, meist jedoch nur Mittelmaß. In der aktuellen Spielzeit ist der Kontakt zur Spitzengruppe zumindest noch nicht abgerissen. Das lässt jeden Erfurter Anhänger träumen, wie so oft in den vergangenen Jahrzehnten, aber Leiden gehört ganz sicher zu den notwendigen Dingen, will man Anhänger dieses Klubs sein. Sieht die Gegenwart aus Erfurter Sicht also gar nicht so schlecht aus, so ist der Blick in die Zukunft, folgt man den Argumenten der Klubführung, geradezu rosig.

Mit der »Mission 2016« wurde vor zwei Jahren ein Vorhaben öffentlich ausgerufen und beinhaltet letztlich den planvoll angegangenen Aufstieg in die 2. Bundesliga im Jahr 2016. Träumen ist ja erlaubt und dem Erfurter Fan durchaus in die Wiege gelegt. Dumm nur, dass diese Träume mit großer Regelmäßigkeit an den verlorenen Spielen gegen diverse Tabellenletzte scheitern, welche im bisherigen Saisonverlauf noch keinen einzigen Auswärtssieg eingefahren haben, und genau dieses dann im Steigerwaldstadion schaffen.

Eine wichtige Voraussetzung für den Aufstieg und den angestrebten Verbleib in der 2. Bundesliga ist die Existenz einer modernen Spielstätte. Und hier sieht es erstmals so aus, dass nach jahre-, nein jahrzehntelangen Plänen - 1969 wurde von der damaligen SED-Bezirksleitung Erfurt erstmals über ein neues Stadion nachgedacht - mit dem in Kürze beginnenden Umbau des Steigerwaldstadions zu einer Multifunktionsarena endlich auch infrastrukturelle Bedingungen durch die Stadt Erfurt, den Eigentümer des Stadions, dafür geschaffen werden. Für 35 Millionen Euro, der größte Teil finanziert durch die EU, sollen 21 600 überdachte Plätze entstehen, die Tribünen sollen direkt an die Tartanbahn anschließen und es soll ein multifunktionaler Veranstaltungs- und Tagungsbereich in der Haupttribüne entstehen. Der Wandel vom Stadion zur Multifunktionsarena bietet deutlich bessere Vermarktungschancen.

Ab Januar 2015 soll der Umbau bei laufendem Spielbetrieb erfolgen, so dass der Aufstieg gar nicht eher als Sommer 2016 erfolgen darf, da sonst die Kapazität des Stadions die Euphorie nicht auffangen könnte. Aber solange man sich als Erfurter Fußballfan darüber Sorgen macht, kann die sportliche wie wirtschaftliche Zukunft des Klubs so schlecht nicht sein. Dass der bisher größtmögliche aller Gegner, der FC Carl Zeiss Jena, dann aufgrund des dort nur schleppend vorangehenden Stadionumbauvorhabens noch weiter abgehängt wird, schadet dem Erfurter Fußballgemüt dabei keinesfalls - im Gegenteil.

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