Aufbruch ins Unbewusste

Vor 75 Jahren starb Sigmund Freud, der Urvater der analytischen Psychotherapie

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Lange standen sich Psychoanalytiker und Neurowissenschaftler unversöhnlich, oft sogar feindselig gegenüber. Erst aufgrund neuerer Forschungen haben sie teilweise zu einem produktiven Dialog gefunden.

Ödipuskomplex, Verdrängung, Penisneid, Todestrieb, Über-Ich. All diese und andere Begriffe, die dem voluminösen Werk des österreichischen Nervenarztes Sigmund Freud (1856-1939) entstammen, sind längst Teil unserer Alltagssprache geworden. Dagegen wird das, was sie bezeichnen, von Wissenschaftlern oft als realitätsfern oder antiquiert beschrieben. Dafür gibt es gute Gründe. Denn Freud entwickelte seine Lehre von der Dynamik des unbewussten Seelenlebens in einer Zeit, die auf eine Weise sexuell repressiv und lustfeindlich war, wie man es sich heute kaum noch vorzustellen vermag.

Umso größer war das öffentliche Aufsehen, das Freud mit seinen Ideen erregte. So behauptete er etwa, das sexuelle Erleben eines Menschen beginne nicht erst mit der Pubertät. Es setze schon im Säuglingsalter ein und durchlaufe eine orale, anale und phallische Phase, in der Jungen vom Ödipuskomplex und Mädchen vom Penisneid beherrscht würden. Wie kam Freud auf diesen Gedanken? Oft werden zur Erklärung biografische Daten bemüht, die aber keineswegs gesichert sind. So soll Freud als Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sein. Er selbst gab an, dass er die Bedeutung der frühkindlichen Sexualität für die seelische Entwicklung eines Menschen aus Gesprächen mit Patienten abgeleitet habe.

Genau hier setzen seine Kritiker heute an. Denn Freud hat nur über wenige Patienten ausführlich berichtet. Zudem ließ er dabei oft die nötige Objektivität vermissen, schreibt der US-Wissenschaftshistoriker Frank Sulloway: »Freud interpretierte seine Patienten so, wie es für seine Theorien am günstigsten war. Er lag wie ein Detektiv auf der Lauer, bis er auf eine Assoziation stieß, die ins Konzept passte.« Als Beispiel hierfür sei der Fall einer jungen Frau genannt, die in der Literatur das Pseudonym »Dora« trägt. Sie hieß in Wahrheit Ida Bauer und war die Schwester des österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer. Nachdem Freud die 18-Jährige wegen hysterischer Symptome elf Wochen lang behandelt hatte, brach Dora die Analyse abrupt ab. Der Grund: Freud hatte ihr einen unterdrückten Beziehungswunsch zur Geliebten ihres Vaters unterstellt sowie ihren nervösen Husten als Nachahmung väterlicher Koitusgeräusche gedeutet.

Bekannt wurde auch der Fall des an einer Neurose leidenden »Wolfsmannes«. Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der russische Adlige Sergej Pankejeff, der im Traum weiße Wölfe auf einem Baum gesehen hatte. Für Freud war die Sache nach der Analyse klar: Als kleiner Junge habe Pankejeff seine Eltern beim Geschlechtsverkehr beobachtet. Die weißen Wölfe seien gewissermaßen ein Symbol für die Unterwäsche der Eltern. Nach vierjähriger Behandlung hielt Freud Pankejeff für geheilt. Der allerdings war ganz anderer Meinung und erzählte Jahre später einer Journalistin: »Ich bin noch immer in derselben Verfassung, in der ich war, als ich zum ersten Mal Freud aufsuchte.«

»Es ist schon sehr erstaunlich«, schreibt der Biologe Heinrich Zankl, »dass die Psychoanalyse einen so großen Erfolg hatte, obwohl nur wenige und in ihrer Beweiskraft dürftige Fallbeispiele vorgelegt wurden.« Dieses Erstaunen könnte man auch auf Freuds Modell des menschlichen Trieblebens übertragen. Danach wird unser Organismus permanent von sexueller Energie (Libido) durchströmt, die, sofern sie sich »irgendwo« staut, Unlustgefühle erzeugt, während der Abfluss der Libido mit Lustgefühlen einhergeht. Das heißt: Zur Wahrung ihrer seelischen Gesundheit sind Menschen häufig gezwungen, sich äußerlich abzureagieren, um einen endogen entstandenen Triebstau wieder aufzulösen.

Obwohl dieses »Dampfkesselmodell« der Psyche auf falschen Prämissen beruht, ist es Freud gelungen, tiefe Einblicke in die Struktur des von ihm so genannten psychischen Apparats zu gewinnen. Bekanntlich hatte er darin drei maßgebliche »Instanzen« verortet, denen er die Bezeichnungen Es, Ich und Über-Ich gab. Das Es steht dabei für das triebhafte Unbewusste, das Ich für das bewusst Erlebte, das notfalls jene Triebe zügelt, und das Über-Ich wacht als eine Art inneres Gewissen über die Einhaltung sozialer Normen.

Auch wenn diese Dreiteilung heute als überholt gilt, hält der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth zumindest drei Grundaussagen Freuds für im Kern bestätigt. Erstens: »Das Unbewusste determiniert weitgehend das Bewusstsein.« Zweitens: »Das Unbewusste entsteht ontogenetisch vor dem Bewusstsein.« Und drittens: »Das bewusste Ich hat nur geringe Einsicht in die unbewussten Determinanten des Erlebens und Handelns.« Folglich könne sich ein Mensch mit psychischen Problemen nicht selbst behandeln, meint Roth, sondern benötige dafür die Hilfe eines Therapeuten.

Allerdings wäre hier noch eine Anmerkung zu machen. Was Roth und andere Hirnforscher das Unbewusste nennen, hat mit Freuds triebhaftem Es wenig gemein. Denn in den Tiefen des Unbewussten, namentlich im limbischen System des Gehirns, schlummern nicht dunkle, destruktive Triebe. Dort befindet sich das emotionale Erfahrungsgedächtnis eines Menschen, das unentwegt dessen Wünsche und Vorstellungen beeinflusst. Wären uns diese Erfahrungen allzeit bewusst, würde unser Gehirn ins Chaos stürzen und mithin unfähig sein, überhaupt bewusste Erlebnisse zu generieren.

Ohne Schwierigkeiten lässt sich dagegen das Über-Ich im Gehirn lokalisieren. Es wird durch den orbitofrontalen Cortex repräsentiert, eine Region des Stirnhirns, die unsere moralischen Vorstellungen »beherbergt«. Ist diese Region geschädigt, sind die betroffenen Menschen unfähig, die positiven oder negativen Folgen ihres Tuns vorauszusehen. Sie empfinden weder Schuld noch Reue, zumal ihrem Gehirn das Vermögen fehlt, jegliches Verhalten sozial verträglich zu steuern.

Auch zur Frage nach den Möglichkeiten der Psychoanalyse als Therapie hat die Hirnforschung wichtige Erkenntnisse erbracht. So zeigen etwa tomografische Untersuchungen, dass bei psychisch Kranken bestimmte Zentren des limbischen Systems in ihrer Aktivität merklich erhöht oder erniedrigt sind. Vorrangiges Ziel einer Psychotherapie sollte es daher sein, die Fehlfunktionen limbischer Netzwerke zu beheben.

»Das ist aus neurobiologischer Sicht jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden«, sagt Roth. Denn anders als die Netzwerke der Großhirnrinde, die unter anderem das bewusste Erleben steuern, reagieren die limbischen Regionen eher träge. Das wiederum hat zur Folge, dass emotionale Lern- und Umlernprozesse nur sehr langsam vonstattengehen. Um hier Veränderungen hervorzurufen, reichen bloße Appelle an die Einsicht der Patienten nicht aus. Sinnvoller wäre es, deren Unbewusstes durch eine Psychotherapie in »emotionale Unruhe« zu versetzen, um so neurobiologische Prozesse anzuregen, die die bedrohlichen limbischen Impulse gleichsam neutralisieren. Das könnte die Patienten befähigen, mit unbewussten psychischen Belastungen entspannter umzugehen.

In der Praxis sind Psychotherapien bekanntlich oft erfolgreich, auch durch Anwendung analytischer Methoden. Bis heute weiß jedoch niemand, warum die Psychoanalyse bei einem Menschen wirkt, beim anderen nicht. Hier sei, meint Roth, noch viel interdisziplinäre Forschungsarbeit zu leisten.

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