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O, Marina!

Silvia Avallone erzählt von der Generation der Faulen und Oberflächlichen - und so Liebenswürdigen

  • Marlene Göring
  • Lesedauer: 4 Min.

O Marina, was tust du bloß, che cosa fai? Zum Haareraufen ist es, wie lange sie vor dem Spiegel steht, wie exaltiert sie ihre furchtbare Garderobe aussucht und falschen Träumen hinterherrennt. Wie sie die Menschen um sich herum vor den Kopf stößt und sich selbst im Weg steht.

»Marina Belleza« ist die Anti-Heldin im gleichnamigen Roman von Silvia Avallone. Eine, der man sich nicht entziehen kann, obwohl sie eigentlich vor allem eins tut: nerven. Mit ihrer Mutter kommuniziert sie nur in Vorwürfen, ihre Mitmenschen haben gefälligst für sie da zu sein. Sie will, sie muss bewundert werden, und vor allem Ernst läuft sie davon. Sie verhält sich also so wie jeder Teenager. Nur dass Marina gerade schon die 20 überschritten hat.

Marina Bellezza ist schön. Und sie weiß es. Sie hat die blondesten Haare, die längsten Beine und das strahlendste Lächeln aller jungen Frauen im norditalienischen Biella.


* Silvia Avallone: Marina Belleza. Roman. A. d. Ital. v. Michael v. Killisch-Horn. Klett-Cotta. 568 S., geb, 24,95 €.


Deswegen hat sie es auch verdient, berühmt zu werden, davon ist Marina überzeugt. An ihrer Karriere als Sängerin arbeitet sie verbissen. Im Fitness-Studio zum Beispiel, wo sie sich regelmäßig bis zur Erschöpfung treibt. Marina ist ein Star, und die Welt soll das gefälligst erkennen. Alles, was zählt, ist der Erfolg. Beziehungen, wie die zum introvertierten Andrea, sind da nur Ballast.

Den Weg ganz nach oben sucht Marina in lokalen Casting-Shows: Traurige Veranstaltungen, bei denen die, die endgültig in der ausgestorbenen Campagna hängengeblieben sind, denen zuschauen, die möglichst schnell dort weg wollen. In Shopping Malls, in denen es tausend schöne Dinge gibt, die sich keiner aus dem Publikum leisten kann.

Denn dem Ort Biella ergeht es wie so vielen Landstrichen Europas: Das Land ist verarmt, die Menschen sind weg, sind den Jobs hinterhergezogen, die jetzt nur noch in der Stadt zu finden sind. Wenn überhaupt. Perspektivlos nennt man das wohl. Star werden oder Stütze - das ist die Losung vieler junger Menschen heute, in Italien, Großbritannien, Deutschland, überall. Marina ist eine von vielen. Deshalb kennen wir sie so gut. Und mögen sie, obwohl wir sie nicht ausstehen können.

Marinas Schöpferin Silvia Avallone ist selbst eine junge Frau, mit dunklen Locken statt gebleichter Mähne, 1984 geboren und zwar wie ihre Heldin in Biella. Sie kennt dieses verlassene Land zwischen den Bergen, kennt die Menschen und ihre alten Weisen.

Das kann schwierig sein: Wenn ein Autor zu nah an seinem Geschehen dran ist, verliert er leicht die notwendige Distanz des Beobachters. Das Beschriebene wird dann eindimensionaler, als es je ein Geist erdichten könnte. Aber nicht bei Silvia Avallone: Kumpanei mit ihren Figuren kann man ihr sicher nicht vorwerfen. Zu sehr schreibt sie deren Fehler, mal Engstirnigkeit, mal Eigensucht, mal Selbstaufgabe aus ihnen heraus.

Trotzdem schwingt in all dem eine Liebe mit, eine Vertrautheit, so dass die Figuren lebendig werden und ihre so menschliche Sehnsucht aus jeder ihrer verschrobenen Handlungen herausschreit.

Silvia Avallone erweckt ihre eigene Generation für jeden sichtbar zum Leben. Die Faulen, die Anstrengenden, die Oberflächlichen. Die, die der alten Generation nicht mal mehr neue Ideale entgegenzuhalten haben. Und die doch so sehr träumen: von einem anderen, einem vollen Leben. So wie Marina von ihrem Leben als Star. Oder Andrea, der Schüchterne, der am liebsten wie sein Großvater Kuhhirt werden - und in einer Bauernhofidylle mit Marina alt werden will. Oder Elsa, die sich fast das gleiche wünscht: eine Heimat, die sie selber geschaffen hat - nur leider eben ausgerechnet mit Andrea. Elsa kommt nach der Universität sogar zurück in das vereinsamte Ländchen. Das zieht sie einem Leben im akademischen Prekariat der Großstädte vor, das ihr scheinbar nichts zu bieten hat.

Und so versuchen alle Menschen in diesem großartigen dritten Buch der italienischen Schriftstellerin, ihren Alltag loszuwerden. Und wenn möglich, sich einen besseren zu bauen. Dabei merken sie nur selten, wie ihnen das Leben die ganze Zeit schon passiert. »Marina Belleza« ist eine Suche und ein Weglaufen, aber immer mit dem Versprechen: Es gibt ein Ankommen. Meistens nur einen Moment lang - aber dann ist das Leben voll.

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