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Literarische Großmacht

Wiederbegegnung mit Charles-Augustin Sainte-Beuve

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 3 Min.

Er wäre gern Dichter geworden, ein großer, ein berühmter. Schon in der Schulzeit hatte er in seine Hefte Verse geschrieben, aber er war noch jung und unsicher, er probierte dies und jenes, studierte Philosophie und Naturwissenschaften, entschied sich dann für die Medizin und geriet durch Freunde an ein politisch-literarisches Blatt, den »Globe«, der auch für den alten Goethe zur unverzichtbaren Lektüre gehörte. Er verfasste Notizen und Aufsätze und wurde schließlich nicht Dichter, sondern Kritiker, der größte und einflussreichste sogar, den Frankreich im 19. Jahrhundert hatte, eine Ausnahmeerscheinung, stilistisch unerreicht, respektiert, geliebt, bewundert. Er war großartig und voller Leidenschaft, wenn er über die Alten, die Toten schrieb, zu denen er floh, weil ihn die Schmarotzerwelt der Gegenwart zutiefst empörte, und er haderte gern, wenn es um Zeitgenossen ging. Sein Porträt über Balzac schrieb er geradezu distanziert. Als er im Oktober 1869 mit 65 Jahren gestorben war, befand sich unter den Tausenden, die dem Trauerzug folgten, die gesamte literarische Elite Frankreichs, und Flaubert klagte: »Mit wem soll ich mich jetzt noch über Literatur unterhalten?«


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* Charles-Augustin Sainte-Beuve: Menschen des XVIII. Jahrhunderts. Hg. v. Andreas Urs Sommer. Die Andere Bibliothek. 423 S., geb., 38 €.


Charles-Augustin Sainte-Beuve ist eine Großmacht gewesen, ein grandioser, origineller Porträtist markanter Gestalten der französischen Literatur, immer wieder neu verlegt, in Deutschland jedoch viel zu wenig bekannt. Stefan Zweig hat wahrscheinlich am intensivsten für ihn geworben, als er 1923 eine umfangreiche Auswahl seiner Arbeiten in zwei Bänden vorlegte. Viel früher schon, 1880, erschien unter dem Titel »Menschen des XVIII. Jahrhunderts« eine Sammlung der legendären Montagskritiken, nach einer Anregung Nietzsches übersetzt von Ida Overbeck. Dieser Band, den es so in Frankreich nicht gibt und der deutsche Leser zum ersten Mal auf Sainte-Beuve hinwies, ist jetzt, reich kommentiert, dazu nobel und hochwertig ausgestattet, vom Schweizer Andreas Urs Sommer in einer limitierten Ausgabe der Anderen Bibliothek noch einmal ediert worden, ergänzt um neuentdeckte Aufzeichnungen von Ida Overbeck.

An ein Epochenbild war gar nicht gedacht, als sich Sainte-Beuve über Fontanelle, Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Diderot, Beaumarchais oder die Briefe des Fräulein von Lespinasse äußerte, aber am Ende schuf er mit seinen geistreichen Plaudereien eine erstaunliche Jahrhundertansicht, die Umrisse des Zeitalters der Aufklärung. Er schrieb, hingerissen von der Figur, mit der er sich befasste, eine Prosa, die den gedanklichen Reichtum in klare, elegante Sätze fasste, und dies war einer der Gründe, warum man um ihn, so oder so, nicht herumkam: Er war bei aller Bildung, allem Tiefgang ein Mann, der seine Leser auf wundersame Weise zu packen, zu unterhalten, auch zu amüsieren wusste.

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