Buddenbrooks und Bauernfrühstück

Der erste und bisher einzige Bibliotheksgasthof Deutschlands befindet sich in Rädigke im Fläming. Von Christina Matte (Text) und Joachim Fieguth (Bild)

  • Christina Matte (Text), Joachim Fieguth (Bild)
  • Lesedauer: 7 Min.

Rädigke, Potsdam-Mittelmark. Am »Gasthof Moritz« beginnt der Literaturweg. Mächtige Steine markieren ihn, verziert mit kleinen Keramikfliesen, darauf Zitate von großen Dichtern: »Eine matte Sonne wälzt sich aus den Wäldern … Frühherbst.«. Wenn Bernd Moritz sich einen Stein aussuchen könnte, dann wahrscheinlich diesen mit diesem Satz. Was der Satz beschreibt, das trägt er in sich. Die Wälder hier, die er schon als Kind durchstreifte, das Holz, das er heute in ihnen schlägt, die Pilze, die jetzt ihren Duft verströmen, all das liebt er. Dass es Erwin Strittmatter war, der seinem Gefühl die Worte lieh, dürfte ihn weniger berühren. Literatur, das ist für ihn die Bauern- und die Waldzeitung - was völlig in Ordnung ist.

Eingeweiht wurde der Literaturweg mit den Lesesteinen im Jahr 2011, am fünften Gründungstag der Fläming-Bibliothek. Diese Bibliothek war schon am 15. Oktober 2006 eröffnet worden - im »Gasthof Moritz«. Nun sitzen wir mit den Wirtsleuten Bernd und Doris Moritz am Runden Tisch, an dem vor acht Jahren alles anfing.

Ja, die Pilze. Steinpilze, Maronen, Pfifferlinge, Krauseglucken und Schirmpilze wachsen in den hiesigen Wäldern, auch hinterhältig-giftige. »Das große Pilzbuch« lag in der Dorfkneipe aus, vielmehr: Es thronte auf einem Bücherbord. Die Sammler kamen mit vollen Körben, um sich mit Hilfe des Buches zu vergewissern. Ob auch die Gommels und die Köthes mit vollen Körben kamen, daran können sich Bernd und Doris Moritz nicht mehr erinnern. Aber die Gommels aus Berlin und die Köthes aus Heidelberg gehörten plötzlich zu Rädigke - an den Wochenenden. Bringt man vorsichtig seinen Eindruck vor, dass Rädigke wohl nicht unbedingt zu den reichsten Dörfern gehört, sagt der Gastwirt: »Unsere Höfe sind sehr begehrt.«

Bernd Moritz liebt nicht nur die Wälder, von denen er einige Hektar besitzt, er liebt auch das Flüsschen Plane, das hinter seinem Anwesen fließt und von dem morgens Nebel aufsteigt. Er liebt die hügelige Landschaft des Hohen Fläming, der seit 1997 Naturpark ist und das Naturparkdorf Rädigke umarmt. Vor allem aber liebt er sein Dorf und das Dorfleben. Er ist Dorfmensch durch und durch. Das liegt daran, dass seine Familie den Hof schon seit 350 Jahren und jetzt in elfter Generation bewirtschaftet. Der Hof sei immer schon Mittelpunkt gewesen.

Seine Familiengeschichte hält Bernd Moritz in Ehren. Hier die Kurzfassung, ist sie doch nicht ganz unwichtig für den Fortgang der Dinge, die schließlich in der Fläming-Bibliothek und dem Literaturweg mündeten. In den freien Bauerndörfern, die unter Albrecht dem Bären unter anderem östlich der Elbe entstanden, waren Lehnschulzen eingesetzt worden - ausgestattet mit einem Lehngut, dem Schank- und Krugrecht sowie der Gerichtsbarkeit. Lehnschulzen von Rädigke zählt Bernd Moritz zu seinen Vorfahren. Obwohl das Amt mit der Reichsgründung 1871 abgeschafft worden war, hatten noch seine Großeltern und Eltern die Wirtschaft für das Dorf offengehalten, neben der Landwirtschaft, die Haupterwerb war. Als die Landwirtschaft in der DDR kollektiviert wurde, war Vater Gerhard der LPG beigetreten, Sohn Bernd, Jahrgang 1959, hatte als Maschinenschlosser im Landmaschinenschlosserei-Kreisbetrieb gearbeitet. Seine Frau Doris, gelernte BMSR-Technikerin, war als Kindergärtnerin tätig gewesen. Am 1. Januar 1989 dann hat sie die Gastwirtschaft übernommen. Kurz vor dem Ende der DDR.

In der Schankstube am Runden Tisch, der mit den demokratischen Einrichtungen jener Jahre nichts zu tun hat, sondern schlicht der Stammtisch ist (an dem dennoch manche Idee für das Dorf ausgeheckt wurde und wird), erzählen Bernd und Doris Moritz, dass sie damals nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Zwar wurde jetzt Ware angeboten, der sie bisher hinterherlaufen mussten. Doch die Betriebe drohten, kaputt zu gehen, bestimmte Arbeiten waren nicht mehr gefragt, die Leute aus der Genossenschaft, die früher zum Frühstück und Mittagstisch oder an einem Regentag, an dem sie nicht in die Kartoffeln konnten, einfach zum Kartenspielen kamen, blieben jetzt zusehends weg. Moritzens haben dann nicht mehr um neun, sondern erst um elf geöffnet, den Mittwoch als Ruhetag eingeführt, im Winter auch den Donnerstag. Nur langsam ging es wieder aufwärts. Im Frühjahr, Sommer und im Herbst, vorausgesetzt, es ist schönes Wetter, bevölkern Wanderer den Naturpark. Das »Gasthaus Moritz« bekommt wieder Mittagsgäste, viele kehren zum Café ein, es gibt große Gesellschaften. Bernd und Doris Moritz bauten das älteste Wirtschaftsgebäude ihres großen Vierseitenhofes, einst als Pferde- und Schweinestall errichtet, zur Pension »Am Taubenhaus« aus. Bernd Moritz sagt: »Die Entscheidung war richtig. Stimmt doch, Doris? Sonst würde es uns nicht mehr geben.«

Dann kam den Familien Gommel aus Berlin und Köthe aus Heidelberg die Idee, im Gasthaus eine Fläming-Bibliothek einzurichten. Eine spinnerte Idee, fanden anfangs die meisten Dorfbewohner. Am Runden Tisch, mit Bernd und Doris Moritz, wurde sie dennoch diskutiert. »Klar«, will Bernd Moritz gleich zugesagt und zum »Großen Pilzbuch« geschielt haben, »vergrößern wir eben das Bücherbord.« Die Gommels und die Köthes sagten: »Nee, eine ganze Wand muss es werden!« Da fuhr der Schreck auch dem Gastwirt in die Glieder. Doch war man nicht Dorfmittelpunkt? Konnte man sich verweigern?

Wer sich nun, acht Jahre später, immer noch die Frage stellt, wieso ein 150-Seelen-Dorf eine eigene Bibliothek braucht, wo es doch eine im nahen Niemegk gibt, dem sei hier entgegengeschmettert: In Zeiten, in denen Kommunen gezwungen sind, ihre Bibliotheken zu schließen, sollte man jede Neueröffnung geradezu orgiastisch feiern! Ganz ohne Erbsenzählerei, die im Falle von Rädigke sowieso verfehlt wäre. Jene Räume der Gastwirtschaft, welche die Bibliothek beherbergen, sind eine Augenweide geworden. Ein Verdienst der Familie Köthe - Tochter Beatrix, von Beruf Grafikdesignerin, hat den Festsaal als Bibliothekssaal neu eingerichtet: Verschiedene elegante Grautöne verordnete sie für die Bücherregale und das hölzerne Wandpaneel, edles Dunkelrot für die Wände, der Decke einen fürstlichen Kronleuchter. So etwas hatte Rädigke, hatte der »Gasthof Moritz« noch nicht gesehen.

Erlesen auch der Bücherbestand. Besorgt haben ihn Steffen und Manuela Gommel. Weil Steffen Gommel, beschäftigt beim Fischer-Verlag, den Verlag überzeugen konnte, der Fläming-Bibliothek zunächst 3000 druckfrische Bücher zu spenden. Inzwischen sind es 4000 Bücher, auch andere Verlage gaben. In den Abteilungen Unterhaltung, Humor, Historie, Geschichte/Politik, Biografien, Religion, Philosophie, Sachbuch DDR, Naturwissenschaft, Fantasy, Hochspannung, Kinderbücher findet man beste Literatur. Amos Osz, Terezia Mora, Eugen Ruge, Orhan Pamuk. Zwar hat Bernd Moritz von diesen Autoren noch nichts gelesen, doch er kann erklären: »Der Pamuk ist Literaturnobelpreisträger. Das weiß man, wenn man eine Bibliothek hat.« Neu eingerichtet im hinteren Gastraum wurde gerade ein »Klassikerzimmer«.

»Unsere Fläming-Bibliothek ist die erste und einzige in einer Kneipe, deutschlandweit«, sagt Doris Moritz. »Ausleihen kann man bei uns, so lange der Zapfhahn läuft.« 800 ständige Leser, darunter auch die Gastwirtsfrau, hat der eigens gegründete Bibliotheksverein registriert. Anders als ihr Mann liest Doris Moritz gern und viel, am liebsten Krimis. In jeder freien Minute »zum Ausgleich«.

An diesem Montag im Frühherbst mit »matter Sonne« und allerschönstem Wanderwetter ist in der Wirtschaft nicht viel los. Ein »Aufräumtag« nach dem Wochenende, an dem das Ehepaar im geräumigen Innenhof sage und schreibe 200 Gäste bewirtete. »Seit wir die Bibliothek haben, kommen auch viele Touristen nach Rädigke, die sonst niemals kommen würden. Sie sind neugierig, das ist gut fürs Dorf«, glaubt Bernd Moritz. Natürlich ist es auch gut für den Gasthof. Der Literaturzirkel trifft sich hier, der »Theologische Salon« von Pfarrer Matthias Stephan, der Bibliotheksverein organisiert Lesungen. Und so lange gefachsimpelt wird, laufen auch der Zapfhahn und die Kaffeemaschine.

Wahrscheinlich muss ein Landgasthof in einem 150-Seelendorf, auch wenn es in einem Naturpark liegt, wie ein Gemischtwarenladen funktionieren: ein bisschen historisches Flair, eine skurrile Bibliothek, über die die Leute nicht aufhören zu reden, ein Hofmuseum mit alten Landmaschinen wie Ochsenkummet, Schwunker, Zweischar und Kartoffelhacke, historische Wanderungen - mit Start und Ziel bei Moritzens. Auf einem der Literatursteine am Literaturweg ein Vers von Gottfried Benn: »Nasse Zäune,/ Holzfäulnis und/ Moosansatz/ in der Stille/ der Dörfer.« Stille? Hier nicht.

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