Niemand will den Schatten sehen

25 Jahre nach der Wende beklagen Dopingopfer fehlenden Willen zur Aufarbeitung

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 6 Min.
700 Dopingopfer haben sich innerhalb eines Jahres beim Doping-Opfer-Hilfe-Verein gemeldet. Von den Sportverbänden und der Politik fühlen sie sich seit langem allein gelassen.

»Wir sind in diesem Land, was Sport angeht, völlig gaga.« Ines Geipel, Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfe-Vereins (DOH), meint damit nicht nur überschäumende Euphoriewellen wie im letzten Sommer à la »Wir sind Weltmeister!« Die ehemalige Leichtathletin hatte 2005 um die Streichung ihres Namens aus den Rekordlisten des Deutschen-Leichtathletik-Verbandes gebeten, weil die Ergebnisse nur durch die unfreiwillige Einbindung in das DDR-Zwangsdopingsystem zustande kamen und das Resultat von Körperverletzung seien. Mit konsterniertem Unterton fasst sie 25 Jahre gesamtdeutsche Aufarbeitung der Dopinggeschichte auf einer DOH-Konferenz am Samstag in Berlin zusammen: »Es gibt keine andere Politik dazu. Die Situation ist einfach katastrophal.«

Rund 700 Geschädigte haben sich seit einem Jahr an die Beratungsstelle des Vereins gewandt. Sie alle berichten den zwei Mitarbeitern vor allem von den gesundheitlichen Folgen des Dopings: Viele leiden an Herzerkrankungen, massiven Problemen mit dem Stoffwechsel, geschädigten Organen wie Lunge, Leber und Niere, dazu kommen Tumorerkrankungen. Die Betroffenen, deren Fälle anonym in einer Datenbank des Vereins gesammelt werden, schildern ebenso die psychischen Schäden wie Depressionen und Psychosen. »Die Geschädigten mussten in den vergangenen 25 Jahren dabei einen doppelten Anerkennungsverlust erleben«, so Geipel: Zunächst sei geleugnet worden, dass ihre Geschichten überhaupt wahr seien. Als es daran später keinen Zweifel mehr gab, sei ihnen trotzdem kein ausreichender Opferstatus zuerkannt worden. Natürlich habe es die großen Gerichtsprozesse gegeben und auch Einmalentschädigungen. »Was aber blieb, sind die irreversiblen Schäden bei Hunderten, die durch den Verrat von Politik und Sport immer nur gravierender wurden.«

Dieser Verrat, wie Geipel ihn nennt: Das ist in ihren Augen mangelnder Aufklärungswille der Sportverbände, wie sie sich zuletzt exemplarisch beim Gezerre um die große Studie zum gesamtdeutschen Doping wieder zeigte. Das ist eine Sportpolitik, die den Opferstatus von Dopinggeschädigten nicht anerkennt. Das ist aber auch eine sportverrückte Öffentlichkeit, die gerne Siege und Rekorde feiert und sich selbst auf die Fahnen schreibt, dabei aber gerne wegschaut, wenn es darum geht, wie diese Leistung zustande kommt.

Auch heute, knapp 25 Jahre nach dem Mauerfall, mache der konspirative Charakter des Dopingsystems in der DDR die Aufarbeitung für Betroffene schwierig. Gegenüber »nd« rechnet Geipel mit rund 15 000 dopinggeschädigten Athleten. Viele wüssten bis heute nicht, was mit ihnen geschehen sei, wie das Beispiel einer ehemaligen Schwimmerin zeigt: Sie meldet sich unter Tränen während der Mitgliederversammlung zu Wort und erklärt, erst jetzt begreife sie, woher die Schäden, die traumatischen Erfahrungen stammen: Selbst ihre Eltern hätten eine mögliche Dopinggeschichte nicht wahrhaben wollen, noch am Morgen hätte ihr Vater gesagt, dass an all den »Geschichten« nichts dran sei. Der Grat zwischen Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen ist bei vielen Beteiligten sehr schmal.

Roland Jahn, Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, hört den Berichten der Dopingopfer genau zu. Der Verein hat ihn eingeladen. Aus aktuellem Anlass: In der vergangenen Woche hatte der DOH den sofortigen Rücktritt von Rolf Beilschmidt, dem Hauptgeschäftsführer des Landesportbundes (LSB) Thüringen gefordert. Er hätte wie der SPIEGEL und weitere Medien belegten, die Öffentlichkeit über seine »jahrelange Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit bis zum Mauerfall belogen.« Ebenso wurde Peter Gösel, Präsident des LSB, aufgefordert, sein Amt zur Verfügung zu stellen. Der DOH wirft beiden vor, Aufarbeitung im thüringischen Sport zu verhindern, Dopingopfer zu verhöhnen, aus einer »Schlussstrich-Mentalität« nie einen Hehl gemacht zu haben. Beilschmidt, ein Jugendfreund Jahns, war unter anderem ab 1984 Vizechef und ab 1989 Leiter des Sportclubs Motor Jena, den Mitglieder des DOH wiederholt als »extrem dopingverseucht« bezeichnen. Schon 1993 berichtete der Spiegel über die IM-Tätigkeit Beilschmidts, nun legte das Magazin mit neuen Vorwürfen nach. Die Kritik des DOH richtet sich auch gegen Jahn, der in Augen des Verbands »kumpelhaft und relativierend die Belastungen Beilschmidts wegredet.«

Jahn fordert am Samstag weitere Aufarbeitung: »Es geht um Menschen, deren Leben zerstört worden sind, und wie wir dafür Sorge tragen können, dass wir das noch heilen, was noch zu heilen ist. Auch nach 25 Jahren«, betonte er: »Die Verantwortlichen von damals müssen benannt und Konsequenzen gezogen werden.« Eine Positionierung oder eine Rücktrittsforderung, wie sie Ines Geipel an diesem Tag von ihm persönlich fordert, vermeidet er jedoch: »Das entscheiden die, die zuständig sind. Ich bin nicht die Thüringer Landesregierung oder der Landessportbund. Ich kann nicht der Oberrichter sein. Wenn ich ihm begegne, sage ich ihm, was ich davon halte. Eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit ist nicht zu akzeptieren. Aber ich werde keine Einzelfälle bewerten.« Auch gegenüber »nd« betont Jahn: »Ich kann die Verzweiflung der Betroffenen hier verstehen. Der Weg geht immer von der Aufklärung über Verantwortung hin zu Konsequenzen. Aber dieser Weg ist eine politische Aufgabe.« Und wenn die bisherigen Wege aus Sicht der Betroffenen zu keinen oder unzureichenden Konsequenzen geführt haben? »Dann muss das im Zweifel noch einmal passieren.«

Das geschäftsführende Präsidium des Thüringer LSB hatte Beilschmidt am Dienstag sein Vertrauen ausgesprochen und »Aufklärung, Offenheit und Transparenz« zur Klärung des Falles gefordert. Der LSB wolle nach den Ergebnissen einer unabhängigen Kommission eine Entscheidung über das weitere Vorgehen treffen. Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) zeigte sich in den vergangenen Tagen für eine erneute Überprüfung Beilschmidts offen. Sportverbänden traut Ines Geipel jedoch nicht mehr viel zu. So sei die Unterstützung für die Arbeit des DOH bisher bis auf eine einmalige Finanzhilfe in Höhe von 5000 Euro von Seiten des DOSB »gleich null.«

Der Verein will sich weiter vor allem der Betreuung von Dopingopfern widmen und sich für eine Opferrente für Dopingbetroffene starkmachen: Einmalzahlungen nach dem Doping-Opfer-Hilfe-Gesetz seien bei chronischen Gesundheitsschäden überhaupt nicht ausreichend. Für den derzeitigen Leistungssport sieht Geipel abschließend aber schwarz: »Der Sport ist wie die neue Religion geworden. Wir schalten jegliches kritisches Bewusstsein aus. Ich glaube aber, dass es keine Hexerei ist, dass der Sport zu einem vernünftigen Maß zurückfindet.« Im Sport selbst gäbe es aber derzeit kaum eine Reflexion darüber, was mit den Athleten danach geschehe: »Der Sport produziert permanent auch Dopingfälle, und in dem Moment, wenn die Scheinwerfer ausgehen, sagt er: Das geht uns nichts mehr an. Das wird aber hoffentlich irgendwann nicht mehr funktionieren. Zum Glanz des Sports gehört auch diese Schattenseite dazu.«

Im Moment ist die Situation aber eher für die Dopingopfer finster. Cornelia Reichhelm, früher Ruderin beim SC Dynamo Berlin, wurde bereits ab dem Alter von 13 Jahren ohne ihr Wissen unter anderem Testosteron verabreicht. Sie leidet seit Langem unter schwersten gesundheitlichen Schäden. Ihre Situation fasst sie so zusammen: »Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.«

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