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Tabubruch im Kopf

Viele Menschen haben ungezügelte Sexualfantasien, ohne deswegen psychisch gestört zu sein

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Fantasie kennt bekanntlich keine Grenzen. Das gilt auch für unser sexuelles Erleben. Doch was ist hierbei »normal«, was krankhaft? Kanadische Forscher sind dieser Frage nachgegangen.

Früher wurden sexuelle Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht mit der herrschenden Moral in Einklang standen, als pervers bezeichnet und vorsorglich mit gelehrten lateinischen Namen belegt. Viele flossen mittlerweile in die Alltagssprache ein: Sadismus, Masochismus, Exhibitionismus, Voyeurismus, Fetischismus etc. Aber auch die Liebe zwischen Menschen gleichen Geschlechts galt lange als pervers. Eine häufig gebrauchte Begründung dafür lautete, Homosexuelle seien nicht zu echten partnerschaftlichen Beziehungen fähig.

Erst dank der Liberalisierung der Sexualität ist es hier zu einem grundlegenden Wandel gekommen. Ähnlich wie bestimmte Varianten des Fetischismus werden heute selbst sadomasochistische Praktiken, zum Beispiel Fesselspiele, als zwar extravagante, aber unbedenkliche Formen des Sexualverhaltens angesehen. Unter der Voraussetzung natürlich, dass alle Beteiligten mit den damit verbundenen Handlungen einverstanden sind und niemand zu Schaden kommt.

Ist beides nicht gewährleistet, sprechen Mediziner, um den belasteten Begriff der »sexuellen Perversion« zu vermeiden, heute wertneutral von »Paraphilie«. Die so bezeichneten Störungen der Sexualpräferenz äußern sich in zwanghaften sexuellen Verhaltensweisen und Bedürfnissen sowie sexuell erregenden Fantasien, die unter anderem darauf gerichtet sind, anderen Personen Schmerzen zuzufügen oder sie zu demütigen. Unter dem Stichwort »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« hat Paraphilie auch Eingang in den von der WHO herausgegebenen internationalen Diagnosekatalog der Krankheiten (ICD-10) gefunden, dessen jüngste Ausgabe 2012 erschien. Für die meisten Paraphilien gilt jedoch, was auf psychische Störungen allgemein zutrifft: Der Übergang von einem noch im sozialen Normbereich liegenden Verhalten zu dessen sozial schädlicher Ausprägung ist fließend. Hinzu kommt, dass die Symptomatik keineswegs eine eindeutige Diagnose bedingt, wie die American Psychiatric Association unlängst hervorhob: »Eine Paraphilie muss unterschieden werden vom nicht pathologischen Einsatz sexueller Fantasien oder Verhaltensweisen zur Stimulierung der sexuellen Erregung bei Personen ohne Paraphilie.«

Während es jedoch über das Sexualverhalten von Menschen eine Unmenge an Untersuchungen gibt, ist das breite Spektrum menschlicher Sexualfantasien wissenschaftlich noch unzureichend erforscht. »Aus klinischen Studien wissen wir natürlich, was pathologische Sexfantasien sind. Sie haben mit erzwungenem Sex zu tun sowie damit, andere zu quälen«, sagt Christian Joyal, Neuropsychologe an der Université du Québec in Montreal. Wie aber steht es um die sexuellen Fantasien in der »Normalbevölkerung«? Finden sich auch dort womöglich Hinweise auf Abweichungen, die Ärzten helfen könnten, eine psychische Störung frühzeitig zu diagnostizieren?

Gewöhnlich reden Menschen lieber über ihre sexuellen Erfahrungen als über ihre sexuellen Fantasien. Denn im Kopf von Männern und Frauen geht es zumeist heftiger zur Sache als beim realen Liebesspiel. Es kostet daher in der Regel viel Mühe, die Scham zu überwinden, die unsere sexuellen Fantasien schützt. Aus Furcht vor sozialer Ächtung versuchen es die meisten erst gar nicht. Zumal niemand so genau weiß, ob seine sexuellen Fantasien in irgendeiner Form anstößig sind, oder ob sie auch von anderen geteilt werden.

Um herauszufinden, wie verbreitet bestimmte Sexfantasien sind, haben Joyal und seine Kollegen eine Online-Umfrage durchgeführt, an der sich 799 Männer und 718 Frauen beteiligten. 85 Prozent gaben an, heterosexuell zu sein. Knapp vier Prozent bezeichneten sich als homosexuell. Die anderen verschwiegen ihre sexuelle Orientierung. Allen Probanden wurden 55 sexuelle Szenen vorgegeben und zwei Fragen gestellt. Erstens: Welche Szenen waren schon einmal Gegenstand Ihrer Fantasie? Und zweitens: Gibt es darüber hinaus andere erotischen Fantasien, die Sie erregen?

Bei der Auswertung der Daten teilten die kanadischen Forscher die Fantasien der Probanden in drei Kategorien: typisch, ungewöhnlich, selten. Hierzu einige Beispiele. Typisch: Sex an ausgefallenen Orten, Oralverkehr, Sex mit zwei Personen. Ungewöhnlich: Sex mit Prostituierten, »Natursekt«, Missbrauch einer berauschten Person. Selten: Sex mit Minderjährigen oder Tieren.

»Erwartungsgemäß gibt es deutlich mehr typische als ungewöhnliche Fantasien«, sagt Joyal, der mit seinen Kollegen auch feststellte, dass sexuelle Vorstellungswelten von Männern und Frauen oft weit auseinander liegen. Im Allgemeinen denken Männer häufiger über Sex nach und beschreiben ihre Fantasien lebhafter als Frauen. Nicht minder auffällig sind die Unterschiede bei den fantasierten Inhalten. So erklärten etwa 85 Prozent der befragten Männer, dass sie im Kopf schon einmal Sex mit zwei Frauen gehabt hätten. Umgekehrt waren nur 31 Prozent der Frauen an fiktivem Sex mit zwei Männern interessiert.

Immerhin 65 Prozent der Frauen gaben an, Unterwerfungsfantasien zu haben. 52 Prozent sahen sich dabei in Fesselspiele verwickelt, während 36 Prozent, man mag es kaum glauben, von moderater masochistischer Gewalt fantasierten. Allerdings zogen fast alle Frauen eine klare Grenze zwischen Fiktion und Realität. Ihre Fantasien auszuleben, sich also von einem Mann in irgendeiner Form dominieren zu lassen, käme nur für die wenigsten in Frage. Männer sind da erheblich forscher. Sie fänden es durchaus reizvoll, erklärten die Befragten mehrheitlich, das im Kopf Erlebte auch auszuprobieren (»The Journal of Sexual Medicine«.

An anderer Stelle wiederum waren die Männer besser als ihr Ruf. Denn 78 Prozent der männlichen Probanden gaben an, dass sie ihre fiktiven Sexabenteuer gern an idyllische Orte verlegten. 88 Prozent entwickelten dabei sogar romantische Gefühle. Bei den Frauen fielen die entsprechenden Zahlen ähnlich aus. Dagegen stellte sich b eim Thema Seitensprung das typische Ungleichgewicht wieder her. Auf die Frage, ob sie schon einmal von einer »heißen Affäre« fantasiert hätten, antworteten 66 Prozent der verheirateten Frauen mit Ja. Bei den verheirateten Männern waren es 83 Prozent. Manche Männer werden sogar von der Vorstellung erregt, dass ihre Partnerin mit einem Fremden schläft. Obwohl man solche Fantasien evolutionär nur schwer erklären könne, sagt Joyal, seien sie in der Männerwelt weiter verbreitet als gedacht.

Von Fantasien, die die Forscher als ungewöhnlich eingestuft hatten, berichteten lediglich 16 Prozent der Befragten. Nun wäre es gewiss abwegig, die damit verbundenen Sehnsüchte als Anzeichen einer Paraphilie, sprich einer psychischen Störung zu deuten. Das ist anders bei den seltenen Fantasien, die manche Sexualmediziner auch als anomal oder pathologisch kennzeichnen. Immerhin geht es dabei nicht zuletzt um Sex mit Kindern. 2,3 Prozent der Befragten räumten ein, sich so etwas gelegentlich vorzustellen.

Erfahrungsgemäß sind von dieser Neigung fast ausschließlich Männer betroffen und damit Personen, denen es oft schwer fällt, sich mit der bloßen Vorstellung zu begnügen. Wer solche sexuellen Fantasien hat, sollte deshalb zum Schutz anderer, aber auch zum eigenen Schutz, medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Eine gute Adresse hierfür wäre die Berliner Charité, an der junge Männer in einer anonymen Präventionstherapie lernen können, ihre pädophilen Neigungen zu kontrollieren.

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