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Armes Theater, reiches Theater

Kubas Schauspielszene ist ein tabuloser Spiegel der Gesellschaft – leidenschaftlich, gefeiert, hoch politisch

  • Arne Retzlaff
  • Lesedauer: 7 Min.
Der aus Dresden stammende Regisseur Arne Retzlaff besuchte das Nationale Theaterfestival Kubas – eine furiose Bestandsaufnahme der schwierigen Situation in dem karibischen Inselstaat.

Eine Nachtfahrt mit dem Bus von Havanna nach Camagüey zum Nationalen Theaterfestival Kubas. Langes Warten auf eine Fahrkarte im Busbahnhof. »Unser Computersystem wurde umgestellt, wir müssen sehen, wie viele Plätze frei bleiben«, heißt es. Dann geht alles sehr einfach. Der Bus ist kaum halb voll, eine Fahrkarte in die Hand bekomme ich nicht. Wieder eine Möglichkeit, das schmale Gehalt aufzustocken.

Wir fahren durch die Nacht von Havanna, vorbei an Menschen mit Geldscheinen in der Hand, die an Kreuzungen auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Die Autobahn erinnert eher an eine Asphaltpiste ohne Markierungen, ohne Leitplanken. Die ganze Nacht durch tauchen Wartende auf, kommen uns Fahrräder ohne Licht entgegen, kreuzen Traktoren die Fahrbahn, Ochsenkarren, Reiter. In jeder größeren Stadt ein kurzer Halt. Brötchen mit Schweinefleisch, Kaffee, Erfrischungen werden von privaten Händlern angeboten. Man muss Geld verdienen.

Irgendwann geht es nicht weiter. Im Scheinwerferlicht eines zweiten Busses wird der Keilriemen gewechselt. 20 Männer stehen um den Mechaniker herum, rauchen, geben Ratschläge, helfen. In den Morgenstunden holt mich Freddys Núñez Estenoz, der Präsident des Festivals, ab. Er begleitet mich die gesamte Zeit, ich kann bei ihm übernachten, habe freien Eintritt zu allen Vorstellungen.
Kubanisches Theater ist armes Theater. Die Gebäude sind in schlechtem Zustand, die Sitze durchgesessen, die Klimaanlage rattert. Die technische Ausstattung ist veraltet, oft fehlt das Geld für ein Bühnenbild. Die Aufführungen müssen mit geringsten Mitteln auskommen, die Ensembles sind klein. Schauspieler und Regisseure verdienen zwischen 12 und 25 Euro im Monat. Kein Wunder, dass viele zu Film und Fernsehen abwandern oder gleich ins Ausland.

Kubanisches Theater ist aber auch reiches Theater, vom Staat subventioniert, mit einer enormen thematischen und ästhetischen Vielfalt und geprägt von hervorragenden Schauspielern.
Eröffnet wurde das Festival durch das Teatro del Viento aus Camagüey mit der Inszenierung »Der Millionär und der Koffer« in der Regie von Freddys Núñez Estenoz zum 200. Geburtstag der Dichterin Gertrudis Gómez de Avellaneda. Der Saal war völlig überfüllt, 200 Interessierte mussten nach Hause geschickt werden. Der Kulturminister war anwesend, der Parteisekretär der Provinz, aber nur der Leiter der Festivals sprach einige Worte zur Eröffnung. Ich wunderte mich und fragte nach. »Dies ist das Festival der Theatermacher, wir wollen nicht, dass die Politiker hier sprechen«, so die Antwort.

Die Handlung war ins Hier und Jetzt verlegt und voller Anspielungen auf die sozialen Nöte und den verzweifelten Überlebenskampf im heutigen Kuba. Ein vermeintlicher Millionär kommt in die Stadt und die Jagd nach der einmaligen Möglichkeit, die Töchter gut zu verheiraten, beginnt. Der Millionär entpuppt sich als Künstler und die Enttäuschung ist riesig: »Künstler sein auf dieser Insel ist ein Synonym für – Hungers sterben.« Als zum Schluss der Slogan »Sozialismus oder Tod«, der die Reden der politische Führung Kubas abschließt, umgewandelt wurde in »Millionär oder Tod«, stand der gesamte Saal und ein Orkan von Bravos brach aus.

Kuba befindet sich politisch und ökonomisch in einem Transformationsprozess. Das größte Problem der kubanischen Gesellschaft, meint Freddys Núñez Estenoz, sind die Gehälter. Medizinische Versorgung beispielsweise und Bildung sind kostenlos. »Aber mit ihren Gehältern können die Kubaner nicht überleben. Wer Familienangehörige im Ausland hat und Geldüberweisungen von ihnen erhält, hat oft ein höheres Lebensniveau als Ärzte, Regisseure, Menschen, die in der Gesellschaft eine gewisse Rolle spielen.« Das Land ist im Wandel, erzählt Freddys, und dieser Wandel werde die sozialen Strukturen verändern. »Die Aufgabe der Kunst ist es, diesen Wandel zu begleiten und zu dokumentieren.«

Die Schere aus steigenden Preisen und stagnierenden Einkommen war immer wieder Thema der Inszenierungen. Wieder völlig überfüllt, die Zuschauer saßen in den Gängen, war die Präsentation des Argos Teatro aus Havanna, das eine Bearbeitung von Sartres »Die respektvolle Dirne« unter der Leitung von Carlos Celtrán zeigte, einen Politkrimi, in dem eine Prostituierte, die Zeugin eines Mordes an einem jungen Schwarzen geworden war, zu einer Falschaussage gezwungen wird. Bedroht, geschlagen und manipuliert von den Vertretern der politischen Elite wird sie ihrer Würde beraubt und geht zum Schluss, bestochen durch die Versprechungen auf sozialen Aufstieg, Haus, Auto, Geld, mit dem Mörder ins Bett.

Zwischen den Vorstellungen war Zeit für Begegnungen. So bildeten sich, wenn die Filmschauspielerin Alina Rodríguez im Theater erschien, zuletzt als Lehrerin Carmela im kubanischen Film »Conducta« zu sehen, Gruppen junger Schauspieler um sie, die mit ihr sprechen oder ein gemeinsames Foto aufnehmen wollten. Der Vizepräsident des Nationalrates der Darstellenden Künste, eben zurück aus Konstanz am Bodensee, erzählte mir begeistert von der deutschen Theaterkultur, vom Wein in der Pause, vom langen Applaus. In Kuba kommen die Zuschauer oft zu Fuß ins Theater oder fahren im Chevrolet, Baujahr vor 1959, im Lada oder auf dem Rücksitz eines Fahrrads vor. Eine Kantine für die Künstler oder ein Restaurant für Besucher gibt es nicht und die Stücke sind kaum länger als 75 Minuten, denn das nächste Problem, der zu bewältigende Rückweg, steht an. Die Zuschauer lieben ihre Schauspieler und reagieren kenntnisreich und euphorisch. Dann ist der Applaus sehr heftig, aber kurz.

Aus dem Spannungsfeld zwischen Exil und verlassener Heimat entstehen immer neu gestellte Fragen nach der eigenen Identität. Auswandern wird nicht nur als Weggehen verstanden, sondern auch als Reise ins Innere, als Versteckspiel vor sich selbst, als Fantasiewanderung. Die Insellage als Synonym für das Ausgeliefertsein war in mehreren Inszenierungen Thema.

Der Regisseur Raúl Martín lässt in »Delirio Habanero« drei Verlorene aufeinandertreffen, die sich in andere Personen hineinträumen. Als die Musikikonen Benny Moré und Celia Cruz und als legendärer Barmann Varilla durchwandern sie die immer gleichen Ellipsen aus Sehnsucht, Verleugnung, Obsession, Überhebung und Absturz. Ein räumliches, zeitliches und motivisches Verwirrspiel voller Musik und Magie. Eine enthusiastisch gefeierte Aufführung des Teatro de la Luna aus Havanna.

Wie Zombies irren die Figuren in »Der Bauch des Kaiman« der aus Camagüey stammenden Gruppe Teatro del Espacio Interior durch den Raum, ruhelos, getrieben. Beladen mit Koffern schleichen sie sich weg, eilen davon, zerren sich fort. Starke Bilder, ein expressiver Text, intensive Schauspieler erzählen vom Hunger, vom Arbeiten, von der Psychiatrie. »Wer bist du?« » Eine kubanische Kreatur. Eine Nummer im System.« Endzeitstimmung. »Wovon träumst du?« »Von Kuba, von Kuba.«

Freddys Núñez Estenoz ist ein vielbeschäftigter Mann. Er ist nicht nur Gründer und Leiter des Teatro del Viento, Autor, Regisseur und Präsident der Festivals, er arbeitet auch als Dozent an der Kunsthochschule von Camagüey, wo neben Schauspiel Ballett unterrichtet wird und eine Abteilung für Bildende Kunst untergebracht ist. Wir besuchen gemeinsam den schönen Komplex. Auf dem Weg wird er immer wieder angesprochen, die halbe Stadt scheint seine Inszenierungen zu kennen oder hat Reportagen gehört, die er für Radio Camagüey über das Festival und die Kunstszene der Stadt herstellt.

Abends zurück im Theater sehe ich »Halte deine Kinder vom Alkohol fern« von Rogelio Orizondo, einer Aufführung des Teatro El Público aus Havanna mit einer schwedischen und einer kubanischen Schauspielerin. Hier werden Texte des Autors mit persönlichen Erlebnisberichten gemischt, Tanztheater mit Einspielungen von Filmsequenzen, Gesang mit schwedischer Trinkfolklore. Die junge Generation zerschlägt thematisch und ästhetisch die geschlossene Form und arbeitet performativ. Wenn die Schauspielerin aus Schweden, die seit sechs Jahren in Kuba lebt und arbeitet, von ihrem Leben in ihrer alten Heimat erzählt, vom Reichtum, der Ordnung, aber auch der persönlichen Kälte und Vereinzelung und mit den Worten: »Ich bin in Kuba keine Touristin, ich bin Emigrantin« schließt, dann ist dies auf eine eigene Weise sehr berührend.

Theater in Kuba ist politisches Theater. Zensur, thematische Tabus waren nicht bemerkbar. »Heute«, sagt Freddys, »kann ich im kubanischen Theater über alles reden. Ich kann meinen Finger in die sozialen Wunden der Gesellschaft legen. Das ist eine totale Öffnung. Ich glaube, das kubanische Theater ist ein wirklicher Zeitzeuge.«

In einem Nachtprogramm, erarbeitet von jungen Schauspielern, Autoren und Regisseuren, wird gefragt: »Wer wird überleben?« »Die Opportunisten«, ist die Antwort. »Und ich. Denn ich kann meinen Körper verkaufen, meine Haare, mein Blut. Ich kann in meinem Magen Drogen transportieren.«
Nach der letzten der 20 Vorstellungen, die ich in einer Woche gesehen hatte, gehen wir zurück zu Freddys Wohnung, laufen durch die Nacht von Camagüey, vorbei an einfachen Familien, die nach Hause gehen, die Kinder auf dem Arm, an Schleppern, die flüsternd ihre Schwarzwaren anbieten, an gelangweilten Polizisten, vorbei am Künstlertreff, wo die jungen Schauspieler bis in die Morgenstunden diskutieren werden, tanzen und träumen, vorbei an schlafenden Taxifahrern, an einsamen Männern auf der Pirsch. Wir überqueren die Bahnschienen und treffen auf eine Gruppe von Transvestiten. »Wie geht’s, Schlanke?«, ruft Freddys. Er kennt seine Stadt. Bis in die verborgenen Winkel. »Du weißt schon«, kommt zur Antwort, »wie immer im Kampf.« »Pass auf dich auf«, ruft Freddys. Und etwas leiser: »Pass auf dich auf.«

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