Halbherzige Hilfe

Die Aufarbeitung von Missbrauch in Heimen läuft nur schleppend, weil die Politik hohe Kosten fürchtet

Wer zu spät kommt, droht leer auszugehen. Die Antragsfristen für die Hilfsfonds für Heimkinder wurden bewusst kurz gehalten, um die Kosten überschaubar zu halten.

Drei Jahre lang lang hatten ehemalige Heimkinder die Möglichkeit, Hilfen aus dem Fonds »Heimerziehung West« zu beantragen. Am 31. Dezember lief die Frist aus. Bisher haben sich lediglich rund 16 500 Betroffene bis Ende November bei den Anlaufstellen gemeldet. Ralf Kleindiek, Staatssekretär im Bundesfamilienministerium, erklärte unlängst, niemanden aus dem Hilfsfonds ausschließen zu wollen. Selbst wenn eine Frist versäumt werde, könne in Einzelfällen noch eine Lösung gefunden werden. Die aufkommende Kritik an den Antragsfristen versuchte Kleindiek zu beschwichtigen. Denn mitnichten haben sich bislang alle, die unter den rüden Erziehungsmethoden in den öffentlichen oder kirchlichen Anstalten gelitten haben, bei den zuständigen Anlaufstellen gemeldet.

Die Heimerziehung ist fraglos eine Schattenseite des westdeutschen Wirtschaftswunders. Mehr als 800 000 Kinder und Jugendliche lebten in Heimen, teils abgeriegelt von der Öffentlichkeit wurden sie zur Arbeit herangezogen. Als ihre schwierigen und bisweilen menschenunwürdigen Lebenssituationen an eine größere Öffentlichkeit gelangten, empfahl der Bundestag, einen »Runden Tisch Heimerziehung« einzurichten. An den Treffen, die erstmals im Februar 2009 stattfanden, nahmen neben dem Bund und den Ländern auch Vertreter der Katholischen und Evangelischen Kirche sowie der ehemaligen Heimkinder teil.

Nach knapp zweijähriger Beratung stellte die damalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), im Dezember 2010 den Abschlussbericht vor, in dem ein Hilfsfonds für ehemalige Heimkinder vorgeschlagen wurde. Bund, Länder und die beiden Kirchen beteiligen sich an den Zahlungen für jene Jugendlichen, die in der Bundesrepublik von 1949 bis 1975 Leid in den Heimen erfuhren. Ausgestattet wurde der Fonds mit 120 Millionen Euro. Die Summe wird aber aller Voraussicht nach nicht ausreichen, um allen Antragstellern Hilfen zu ermöglichen. Das Bundesfamilienministerium hat bereits seine Bereitschaft für eine Aufstockung der Mittel bekundet. Die Verhandlungen darüber laufen noch.

Ein Jahr, nachdem den westdeutschen Heimkindern Hilfen zugesagt wurden, einigten sich der Bundestag und die Ost-Länder über die Einrichtung eines Fonds »Heimerziehung DDR«. Die Höhe der Anlage betrug anfangs 40 Millionen Euro, wurde aber im Februar 2014 auf bis zu 200 Millionen Euro aufgestockt. Vor allem die Länder drängten darauf, die Antragsfrist kurz zu halten, um die Kosten zu beschränken. In den ostdeutschen Ländern ist sie bereits am 30. September 2014 ausgelaufen. Bis zum Stichtag meldeten sich rund 20 500 ehemalige Heimkinder.

Ein dritter Hilfsfonds für Opfer von sexuellen Übergriffen wurde im Mai 2013 eingerichtet, nachdem eine Reihe von sexuellen Missbrauchsfällen in Internaten die Öffentlichkeit schockiert hatte.

Doch damit ist noch nicht allen gedacht, denen Unrecht in Erziehungsanstalten widerfahren ist. Menschen, die in Einrichtungen für Behinderte und psychisch Kranke untergebracht wurden, sind von den Leistungen bisher ausgeschlossen. Bund, Länder und Kirchen konnten sich noch über keine Entschädigungen einigen.

Vertreter der Betroffenen lehnen die Leistungen ab. Der Verein ehemaliger Heimkinder (VEH) kritisiert, dass es sich bei den Hilfen um Sachleistungen handelt, für die es keinen Rechtsanspruch gibt. Zudem hält der VEH viele Kriterien der Fonds für willkürlich festgelegt - so die Übereinkunft, das Unrecht, das westdeutsche Heimkinder erlitten, nur bis 1975 anzuerkennen; oder für die arbeitenden Heimkinder erst ab dem 14. Lebensjahr für die Rentenersatzleistungen zu gewähren, obwohl auch jüngere Kinder zur Arbeit gezwungen wurden. Viele Betroffene drohten deshalb, leer auszugehen, kritisiert der VEH.

Dennoch spricht Ulrike Poppe, Beauftragte des Landes Brandenburg für ehemalige Heimkinder, von einer hohen Zufriedenheit jener, die Mittel aus dem Fonds erhalten haben. »Dies sind ja immerhin unerwartete Leistungen«, findet sie.

Herbert Scherer, der ehemalige Leiter der Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder in Berlin, hält der Fonds-Regelung zugute, dass sie einen niedrigschwelligen Zugang für die Betroffenen ermöglicht. »Bei einer Entschädigungslösung wäre die Beweislast für die Betroffenen wahrscheinlich ungleich größer« gibt er zu bedenken. »Denn dann müssten die ehemaligen Heimkinder wahrscheinlich detailliert belegen, wie ihnen vor Jahrzehnten im Einzelnen Leid zugefügt wurde.«

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