Hans Misselwitz, 
Sozialdemokrat

Der Pfarrer und Aktivist lernte die Nöte der Hennigsdorfer Stahlwerker kennen und entschied sich für den Eintritt in die SDP

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 6 Min.

Flughafen Mailand, Juni 1988. Ein Mann geht die Gangway hinauf zur Tupolew der DDR-Linie Interflug - Anschlussflug nach Berlin-Schönefeld. Nach knapp einem Jahr in den USA geht es zurück nach Hause. In seinem Gepäck: ein geschenkter Macintosh-Computer nebst Zubehör - Geräte, die auf der »CoCom-Liste« stehen und nicht aus dem Westen in den Osten exportiert werden dürfen. Auf der Treppe sieht der Mann, wie sein Koffer vom Förderband fällt und auf den Beton kracht. »Scheiße, jetzt war alles umsonst«, denkt der 38-Jährige. In Schönefeld fragt der Zoll nach seinem Gepäck: »Und was ist das?« Er antwortet: »Eine elektrische Schreibmaschine.« 1988 wissen sie es nicht besser und winken ihn durch. Ein paar Monate später schreibt der kleine »Mac« mit an der Geschichte.

Berlin, Dezember 2014. Wir sitzen im Arbeitszimmer des Mannes in der Wohnung in Berlin-Pankow, die er mit seiner Frau Ruth bewohnt. Hans-Jürgen Misselwitz, genannt Hans; Pfarrer, DDR-Oppositioneller, Doktor der Biochemie, Intellektueller, linker Sozialdemokrat und Sekretär der SPD-Grundwertekommission. Auf dem Holztisch stapeln sich Weihnachtsgeschenke. »Die müssen wir noch einwickeln, für die Töchter und die Enkelin«, sagt Hans Misselwitz lachend und stellt das Tablett mit der Teekanne und den Tassen erst auf den Boden, dann doch auf den Schreibtisch. Er spricht geradeaus und direkt. Manches Mal geht ein Satz nicht zu Ende, geht über in den nächsten Gedanken, springt zurück in die Fortführung des letzten. Doch immer bringt er den Punkt, das Argument zu Ende.

Nach der Kommunalwahl in der DDR am 7. Mai 1989 wurde mit Hilfe des Computers aus den USA die Wahlfälschung in ausgewählten Pankower Wahllokalen nachgewiesen. »Das Gerät stand in unserem Schlafzimmer. Leute gingen ein und aus mit ihren Ergebnissen und tippten ... Schnell war klar, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Den Rechner wollte ich neulich wegschmeißen, aber da sagten meine Töchter, das sei ein historisches Gerät, und ich solle den behalten«, sagt Misselwitz.

Einen Monat nach der Wahl gingen Mitglieder oppositioneller Gruppen in Ost-Berlin auf die Straße, darunter auch die des Pankower Friedenskreises, den Misselwitz 1981 mit gegründet hatte. Polizei und Staatssicherheit nahmen viele Menschen fest, stoppten die Demo. Die Oppositionsgruppen verabredeten danach, an jedem siebten eines Monats gegen den Wahlbetrug zu demonstrieren, die Evangelische Kirche der DDR stellte sich an ihre Seite. Der Rest ist bekannte Geschichte.

Hans Misselwitz wurde am 29. März 1950 im thüringischen Altenburg geboren, 1968 Abitur, Wehrdienst, Studium der Biologie und Biophysik in Jena und seit 1972 in Berlin, 1974 Diplom, Promotion an der Akademie der Wissenschaften, Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Eine geradlinige Karriere, bis zur Entlassung durch die HU 1981. Er hatte sich einer zweiten Einberufung durch die NVA widersetzt. Seine Alternative war, ein Theologiestudium an einer kirchlichen Hochschule zu beginnen. Er nennt es eine »Lebensentscheidung«, dass er, seine Frau und die beiden Töchter in der DDR geblieben sind: »Wir bleiben hier, wir mischen uns ein, wir lassen uns nicht vertreiben.«

An der Karl-Marx-Oberschule in Karl-Marx-Stadt schon hatte seine politische »Karriere« begonnen. 1968 bastelte er mit einem Klassenkameraden eine Wandzeitung zum April-Plenum der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC) - einem Ausgangspunkt des Prager Frühlings, der mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen endete. In Karl-Marx-Stadt endete es damit, dass Misselwitz und der Mittäter am selben Tag der Schule verwiesen wurden. Nach einigen Tagen durfte er wiederkommen. Grund für die »Milde« war, dass der Vater seines Kumpels bei der HVA, dem DDR-Auslandsgeheimdienst, arbeitete und zu Gunsten seines Sohnes interveniert hatte. »Die Lehrer haben gesagt, dann müssen wir den anderen auch nehmen.« Doch der Studienplatz war weg.

Nach dem Militärdienst bei der NVA konnte er sein Studium beginnen. Die Universität war für ihn vor allem Raum für Begegnungen mit kulturellen Nischen und philosophierenden Kreisen. Mit Freunden, die Theologie studierten, fuhr er nach Berlin, wo sie unter Anleitung eines Westberliner Kommunarden Marx, Freud und Reich lasen. Dort lernte er später auch seine Frau kennen. Aus solchen Kontakten entstand nach dem Studium ein privater politischer Diskussionszirkel, später der Friedenskreis.

Während nach dem Mauerfall viele Oppositionelle in außerparlamentarischen Zusammenhängen aktiv blieben, baute Hans Misselwitz die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) mit auf. Im Sommer 1989, als man in den Oppositionsgruppen diskutierte, wie man den politischen Stillstand aufbrechen könnte, hatte auch er »raus aus den Zirkeln, rein in die Gesellschaft« gewollt. Da ging es noch um »offene Strukturen, kreative Provokationen unterhalb der Schwelle der Systemfrage«, wie Hans Misselwitz in einem Rückblick später schrieb. Aber die Entwicklung überholte bald alle Vorstellungen.

Auch bei Hans Misselwitz setzte ein Umdenken ein - wenngleich aus anderem Grund: Er war im September 1989 als Pfarrer ins brandenburgische Hennigsdorf geschickt worden. Der Berliner Intellektuelle merkte schnell, dass die Uhren in der Industriestadt anders tickten. Die Nöte hier waren existenzieller, konkreter, bald schon ging es um die Jobs der Stahlwerker und Lokomotivbauer. Mit aus Berlin angereisten Oppositionellen konnten sie nur wenig anfangen. Die Erwartungen der Leute richteten sich an die Sozialdemokratie. Ende Dezember 1989 trat der Pfarrer in die SDP ein.

Nach der Wahl im März 1990 zog Misselwitz in die erste frei gewählte Volkskammer ein. Als Parlamentarischer Staatssekretär im Außenministerium leitete er die DDR-Delegation bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Eine Herausforderung, die ihn bis heute umtreibt: Es ging damals um nicht weniger als das Ende des Kalten Krieges und die Spaltung des Kontinents. Die Unterlassungen von damals könnten heute zum Stolperstein für den Frieden in Europa werden.

Hans Misselwitz hat sich nach seinem 40. Lebensjahr auf ein Leben in der Politik eingelassen, parlamentarisch wie außerparlamentarisch. Gefragt, wie er heute Bärbel Bohleys Satz »Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat« bewerten würde, sagt er: Recht hatte sie insofern, dass der westdeutsche Rechtsstaat an vielen Stellen nicht passfähig für die in der DDR gewachsenen gesellschaftlichen Realitäten war, nicht nur bei der Bewertung der Vergangenheit, vor allem bei den Eigentumsformen, bei den durch Bildung und Familienstrukturen gewachsenen Lebensentwürfen und -formen. »Dass die vielen demokratischen Kräfte, die 1989 aufgebrochen waren, nach 1990 weithin nicht mehr zur Verfügung standen, ist eine tragische Wende der ganzen Sache«, sagt er. »Aus der ehemaligen Opposition zogen sich viele in eine Opferrolle zurück, richteten anhand der Stasi-Akten ihren Blick in die Vergangenheit. So kam auch aus dem Osten leider nicht viel Neues.«

Literatur:

Mandat für Deutsche Einheit

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