Canossa und die Kraft der Vergebung

Wie im Januar 1077 eine Frau erreichte, dass die Fehde zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. nicht mit einem Fiasko endete

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war der Tag, an dem - über 1000 Jahre zuvor - Saulus zum Paulus geworden sein soll. Am 25. Januar 1077, dem Datum des Gedenkens an die Bekehrung des Apostels vor Damaskus, warf sich Heinrich IV. (26) barfuß im härenen Büßergewand auf dem Vorhof der Burg von Canossa nieder und harrte dort der Legende zufolge drei Tage lang in klirrender Kälte aus. Erst am vierten Tag öffnete sich das Tor, Papst Gregor VII. (56) hob den deutschen König auf und erlöste ihn 576 Meter über dem Meeresspiegel vom Kirchenbann, den der Pontifex ein Jahr zuvor verhängt hatte.

Canossa - der Name der im 10. Jahrhundert errichteten Burg in der norditalienischen Provinz Reggio Emilia, von der heute nur noch Ruinenreste stehen, hat eine beeindruckende semantische Karriere hinter sich. Bismarcks zu Zeiten des »Kulturkampfes« mit der katholischen Kirche geprägter teutonischer Topos »Nach Canossa gehen wir nicht!« ist eine oft gebrauchte und international verstandene Metapher.

Canossa - Ort und Wort der Unterwerfung, der Niederlage, des Aufgebens, der Kapitulation, der Schande und Blamage. Metaphern vereinfachen und verkürzen. Denn natürlich war Canossa historisch weit mehr: vor allem als Ausgangspunkt für eine Politik der Trennung von Staat und Kirche im »Heiligen Römischen Reich«; als tiefer Einschnitt in der frühmittelalterlichen politisch-religiösen Einheitswelt; als Symbol einer »Entzauberung der Welt«, wie es der Soziologe Max Weber formulierte. Und auch die in Canossa durchaus offene Verteilung der Rollen von Siegern und Verlierern konterkariert die scheinbare Klarheit des Metaphern-Konstrukts.

Bekanntlich ging es seinerzeit um den sogenannten Investiturstreit, also um die Frage, wem das Recht auf die Einsetzung von Bischöfen zukomme: dem König oder dem Papst. Dass Heinrich in Canossa offiziell auf dieses Recht verzichtete, war ein genialer diplomatischer Schachzug, der seine Macht festigte und ihm schließlich die Kaiserkrönung brachte. Gregors Triumph hingegen erwies sich als Sieg à la Pyrrhus, der nicht unwesentlich zu seinem nachfolgenden Abstieg und einsamen Ende in der süditalienischen Hafenstadt Salerno beitrug. Von der Vergebung, die er auf dem Totenbett aussprach, nahm er Heinrich ausdrücklich aus.

Das Stichwort Vergebung ist es denn auch, das, wenn von Canossa die Rede ist, kaum eine Rolle spielt. Dabei war die feudale Feste am Rande des Apennins zwischen Bologna und Parma vor allem dies - ein veritabler Ort der Vergebung. Denn Vergebung für die scharfe Schmähung des Papstes war es, was Heinrich erstrebte, erhoffte und erreichte. Keine Vergebung - keine Bannlösung.

Ungeachtet aller diplomatisch-politischen Rabulistik rund um den Investiturstreit: Canossa wäre an der Unversöhnlichkeit des Papstes fast gescheitert. Denn der nach freudloser Kindheit und Jugend eine steile Kirchenkarriere verfolgende frühere Mönch Hildebrand zeigte auf Canossa, hinter deren Mauern er sich vor dem anrückenden König verschanzt hatte, wenig Neigung zu Vergebung. Dass er schließlich doch einlenkte, ist vor allem seiner Gastgeberin zu verdanken: Mathilde von Tuszien, der Burgherrin von Canossa.

Die in zeitgenössischen Zeugnissen als ebenso intelligent und machtbewusst wie schön und vornehm geschilderte Markgräfin der Toskana war zweifellos eine der faszinierendsten Frauenpersönlichkeiten des Mittelalters. Ihre weitläufigen ererbten und eroberten Besitzungen sowie ihre exzellenten Beziehungen zur politischen Prominenz verschafften ihr Souveränität und Unabhängigkeit, woran ihre beiden - glücklosen - Ehen nichts änderten. Sowohl Heinrich (Mathildes Cousin) wie Gregor waren ihr durch enge Bekanntschaft vertraut und vertrauten ihr. Das machte sie zur idealen Maklerin des heiklen Handels zwischen den beiden Potentaten. Zumal sie nicht nur aufgrund ihrer tiefen Religiosität und pekuniären Generosität gegenüber der Kirche auf den autoritär-machtbesessenen Gregor VII. starken Einfluss hatte (eine den beiden angedichtete sexuelle Beziehung konnte indes nicht nachgewiesen werden).

Mathilde, die auch auf Gemälden und Stichen zum Canossa-Ereignis im Hintergrund zu sehen ist, schaffte es, dem ebenso erbosten wie verängstigten Kirchenoberhaupt den Akt der Vergebung gegenüber seinem monarchischen Widersacher als sinnvoll und notwendig nahezubringen.

Eine »kultivierte aber einsame Frau« nennt Mario Bernabei die Markgräfin. Der italienische Journalist und Publizist ist Verfasser eines Buches über Mathilde von Tuszien. Am Fuße des Burgbergs betreibt er einen Laden mit Lektüre und Souvenirs zur Geschichte und zu den Protagonisten von Canossa. Seine Leidenschaft für die Felsenfeste und ihre Vergangenheit habe ihn zum »freiwilligen Gefangenen von Canossa« gemacht, bekennt der im Tourismus und in der regionalen Kultur vielfältig engagierte Autor. Bernabei sieht Mathilde als politische Siegerin, die in der durch Männer beherrschten Welt jener Zeit »während der Erschütterungen und Umbrüche von mehr als vierzig Jahren ihre starke Position bewahren konnte«.

Mathilde von Tuszien starb kinderlos am 24. Juli 1115 im Alter von 69 Jahren. Ihr 900. Todestag in diesem Jahr ist Anlass für zahlreiche touristische und kulturelle Ereignisse in der Region ihres einstigen Wirkens. Natürlich wird dieses Jubiläum keinen Paradigmenwechsel der Canossa-Metapher einleiten. Sympathisch aber (und historisch gerecht) wäre eine wenigstens leichte Sinnverlagerung in Richtung Vergebung schon.

Mag uns der damalige Anlass und das mit diesem einhergehende politische Kalkül heute auch eher befremden - Vergebung ist ein Vorgang, dessen überragende Bedeutung im politischen wie persönlichen Bereich gar nicht überschätzt werden kann. Und meist unterschätzt wird.

Immerhin: Die inzwischen in einer Sieben-Millionen-Auflage verbreitete jüngste Ausgabe des französischen Satiremagazins »Charlie Hebdo« wartet auf ihrer Titelseite mit einer bemerkenswerten Kombination auf. Denn über dem ein »Je suis Charlie«-Schild haltenden Mohammed prangt der Schriftzug »Tout est pardonné« - »Alles ist vergeben«. Frappierend: Die dem Propheten Allahs erteilte profane Absolution zielt im Kern auf jene Trennung von Politik und Religion, die vor 938 Jahren beim Gipfeltreffen auf Canossa das zentrale Thema war. In der Tat gibt es viel zu vergeben: den Terror, die Toten, den Hass, die Angst, die daraus folgenden Restriktionen ... Und auf der Gegenseite: die Kriege, die Toten, den Hass, die Dekadenz, die Laster, die kulturellen Siege, den wirtschaftlichen Fortschritt, den globalen Erfolg ... Da braucht es eine Menge Canossas.

Wer vergibt, vergibt sich nichts, sondern gibt sich und dem/den anderen die Chance zur Verständigung, zum Frieden. Vergebung ist nicht gleich Versöhnung, denn Vergebung kann einseitig, Versöhnung muss gegenseitig sein. Aber Vergebung kann die wesentliche Voraussetzung sein für Versöhnung. Niemand hat das wohl in der jüngeren Vergangenheit eindrucksvoller demonstriert als Nelson Mandela, der seinen einstigen Peinigern vergab. Sein Credo: »Vergebung befreit die Seele. Sie nimmt die Angst. Das ist der Grund, warum sie eine so mächtige Waffe ist.«

Wie wichtig Vergebung im persönlichen Leben sein kann, war jetzt in einem Interview dieser Zeitung zu lesen (»nd« vom 20. Januar): Ein Mann, der aus rechtsextremem Hass einen Menschen getötet hatte, »weiß«, dass Gott ihm die Tat vergeben hat. Das gibt ihm Frieden und die Kraft, ein anderer, besserer Mensch zu werden. Ein Mensch, der sich nun auch die Vergebung der Angehörigen seines Opfers wünscht.

Die letzten Worte Jesu am Kreuz waren eine Bitte um Vergebung für seine Henker: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.« Golgota und Canossa - zwei Topoi, die in ihrem Kontext unbedingt auch für den Akt der Vergebung stehen.

Wer das Jubiläumsjahr der Mathilde nutzt, um die berühmte Burg Canossa zu besuchen, kann sich, wenn er vor den Ruinen dieser Stätte einer schicksalhaften Begegnung von weltlicher und geistlicher Macht steht, daran erinnern, dass diese historische Zäsur nicht möglich geworden wäre ohne die durch eine großartige Frau vermittelte Vergebung.

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