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Wie wird man unsterblich?
Die Lehre der Leere: Boris Groys rät, sich für die Ewigkeit selbst zum Kunstwerk zu erklären
Um Unsterblichkeit ging es beim Philosophen und Kunstteoretiker Boris Groys schon öfter, etwa im Gesprächsband »Politik der Unsterblichkeit« (2002) oder in der von ihm mitherausgegebenen Anthologie »Kosmismus« (2018). In seinem neuen Essay »Zum Kunstwerk werden« formuliert Groys ein Rezept, wie das mit dem Leben nach dem Tode eventuell funktionieren könnte. Seine Grundthese: Indem sich der Mensch selbst zum Kunstwerk verwandelt, wird er unsterblich.
Aber wie wird eine Person zum Kunstwerk? Groys geht davon aus, dass ein Mensch über zwei Körper verfügt. Der »innere«, der rein biologische Körper führe immer einen zweiten, den in der Öffentlichkeit präsentierten, äußerlich sichtbaren, »narzisstischen« Körper mit sich. Im Falle des Kunstwerk-Werdens wird der erste Körper zum bloßen Werkzeug zur Bewirtschaftung des zweiten Körpers benutzt – zur Pflege des Images und des Fremdbilds.
Der erste Körper ist unbedeutend, bloßes Selbstbild. Die Bedeutungs-Konstruktion, also Kunstwerkwerdung des zweiten überlebt den ersten und macht so den biologischen Körper auf der zweiten, der Bedeutungs-Ebene unsterblich: »Das narzisstische Begehren«, schreibt Groys, »scheint mit dem Wunsch nach Unsterblichkeit zusammenzufallen«: »Wenn ich mein inneres Selbst meinem Bild opfere, das nicht mir, sondern anderen gehört (...), opfere ich meinen lebendigen, sterblichen Körper meinem öffentlichen Körper, (...) der unabhängig von mir existiert und somit nicht nach meinem Tod verschwinden wird.«
Schon der mythologische Narziss habe »seine innere Welt für sein äußeres Bild geopfert, das für jeden zugänglich ist«. Indem also der Narzisst ein Opfer bringt – eines gegen sich selbst und für die Gesellschaft –, ist er gerade nicht egoistisch. Die Konzentration aufs Selbst- beziehungsweise Spiegelbild ist vielmehr Zeichen von geringem Selbstbewusstsein, Ausdruck des Wunsches nach sozialer Integration: »Der Narziss von heute macht Selfies und verteilt sie über Facebook und Instagram. Die Produktion der Bilder ist die Produktion eines Lebens nach dem Tod.« Doch der Narzisst erwartet keine Belohnung für sein Opfer, er genügt sich selbst. Das unterscheidet ihn von den Nicht-Narzissten, die für ihr soziales Engagement Lohn und Anerkennung verlangen.
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Ausgehend vom Mythos des Narziss zieht Groys eine historische Linie der narzisstischen Kunstwerkwerdungs-Praktiken von Jesus Christus über Social-Media-Selfies und Identitätspolitik bis zum ägyptischen Osiris-Mythos und in Quentin Tarantinos zweiteiligem Film »Kill Bill«, einer Mischung aus Eastern und Western mit viel Martial Arts. Das Kampftraining ist für Groys eine »aktive Form des Wartens«, eine »der narzisstischen Praktiken par excellence«. Das Training ist Übung am Selbst, voller Asketismus und Messianismus. Solcherlei Training findet er auch im politischen Sektenwesen, von Revolutionären im Wartestand, wieder.
Dem ist die moderne Kunst entgegengesetzt, denn sie wurde laut Groys »von ihren Protagonisten als Suche nach dem natürlichen, untrainierten und unkonventionellen Selbst verstanden.« Gebildete Menschen präsentieren sich hierbei als ungebildet, als wären sie »ahnungslos darüber, was die Gesellschaft von ihnen erwartet«. So produzieren sie künstlerische Modernität: »Die strategische Positionierung des ›natürlichen‹ Körpers des Künstlers im öffentlichen Raum verwandelt [ihn] in ein Kunstwerk – dazu bedarf es keiner Ausbildung.« Erfolgreiche Gegenwartskünstler sind für Groys werklose, selbst Werk gewordene Narzissten, die nicht mehr ästhetisch kompetent sind, wohl aber in Fragen des »Seelendesigns«.
Letztlich widmet sich Groys’ Buch der großen, alten philosophischen Frage, wie der eigenen Ohnmacht im Angesicht des Todes zu begegnen sei. Sein Vorschlag, sich mittels Werkwerdung ins kulturelle Gedächtnis der Menschheit einzubrennen und so schon zu Lebzeiten vom postumen Kredit zu zehren, ist wagemutig, aber ergiebig.
Von der Mumifizierung im antiken Ägypten über die Aufbewahrung von Lenins Körper im Moskauer Mausoleum bis zum Social-Media-Account verläuft für Groys die Tradition der Musealisierung von »öffentlichen Leichen« also zu Kunstwerken gewordenen Personen, in die sich auch der Künstler und der Terrorist einreihen, denn beide hinterlassen Manifeste, die sie unsterblich machen sollen. So unterscheide sich der lebende Autor nicht mehr vom toten: Durch »Selbstentleerung« werden die narzisstischen Künstler schon zu Lebzeiten zur »reinen Form«, in der sie ihre Zeit überwinden und ihre Individualität in die Ewigkeit hinüberretten.
Der Gestus der bloßen Kritik bleibt Groys dabei fremd – er ist Beobachter, der Zusammenhänge begrifflich rekonstruieren will. Damit dürfte er bestehende Irrtümer stärker erschüttern als die zahlreichen Jammerklagen der Ideologiekritik.
Ein Punkt, der leider zu kurz kommt, ist die Frage der Arbeit: Wenn Groys schreibt, »von uns wird erwartet, dass wir unser Innenleben anderen gegenüber erklären«, dann bedeutet die Präsentation des Ichs eine stetige Arbeit. Doch die einen werden mit dem Selbst-Design Millionäre, die anderen bleiben unbezahlt. So gibt es öffentliche Körper mit unterschiedlichem (Markt)-Wert – eine Ungleichheit, die den Klassenwiderspruch fortführt.
Im Kapitalismus ist heute jeder dazu angehalten, zusätzlich zur regulären Lohnarbeit eine ebenso abstrakte Arbeit der Selbstrepräsentation abzuleisten, deren Lohn in sozialer Anerkennung besteht. Das sieht auch Groys. Aber was ist, wenn jemand diese Arbeit nicht zu tun vermag? Dass ihm dann ein Grundpfeiler der gesellschaftlichen Existenz fehlt, wäre eine der Folgen, derer sich eine Fortführung der Groys’schen Gedanken annehmen könnte.
Boris Groys: Zum Kunstwerk werden. Aus dem Engl. v. Janine Ortiz u. Carl Hegemann. Mit einem Gespräch zwischen Boris Groys und Carl Hegemann. Alexander Verlag, 224 S., geb., 28 €.
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