»Er strahlte irgendwie Aggression aus«

Anklage wegen mehrfacher gefährlicher Körperverletzung - doch der Täter ist schuldunfähig

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.
Das kennt jeder: In der U-Bahn, im Park oder auf der Straße kommt einem ein Mann entgegen, um den man unwillkürlich einen großen Bogen machen möchte. Nicht immer klappt es.

Er schimpft, laut hörbar, unflätig vor sich hin, die Bierpulle im Anschlag, seine scharfen Blicke suchen den Augenkontakt der Vorbeilaufenden - so beschreiben Zeugen ihre flüchtige, höchst unangenehme Begegnung mit dem 49-jährigen Frank R. Wer diesem ansonsten unscheinbaren Typ nicht ausweichen konnte - oder wollte -, der geriet in Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden. So um die 20 Personen wurden über einen Zeitraum von zwei, drei Jahren von R. geschlagen, getreten und beschimpft. Nicht mitgerechnet die Fälle, wo die Betroffenen einfach wegrannten oder keine Anzeige erstatteten. Dreimal stand Frank R. wegen seiner Gewaltausbrüche bereits vor Gericht. In allen drei Fällen wurde das Verfahren eingestellt - wegen Schuldunfähigkeit. Wer nicht Herr seiner Sinne ist, der kann auch nicht juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Nun soll damit Schluss sein. Die Staatsanwaltschaft strebt die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus an, da davon auszugehen ist, dass er weitere Straftaten begehen wird und er somit eine Gefahr für seine Mitmenschen darstellt.

Was geht im Kopfe von R. vor, dass er sich nicht steuern kann, sich an wenig erinnert und er dann, wenn er sich erinnert, das Geschehen völlig anders bewertet als seine Opfer? Eigentlich wollte er zum Prozessauftakt von seinem Schweigerecht Gebrauch machen, doch dann redet, streitet, bezweifelt er unaufhörlich.

Wie im Fall der 38-jährigen Kerstin H. Am 30. Oktober 2012 wartete sie gegen 12.30 Uhr auf dem U-Bahnhof Mehringdamm auf den nächsten Zug. Sie arbeitete als Bühnenbildnerin am Hebbeltheater und wollte auf dem Bahnhof in Ruhe ihr Projekt durchdenken. R. stand in ihrer Nähe und »strahlte irgendwie Aggression aus«. Er suchte den Blickkontakt, sprach sie an. Doch sie wollte nicht, drehte sich zur Seite. Da trat er ohne Vorwarnung zu, schlug ihr mit dem Arm gegen den Hals und beschimpfte sie. Viele Fahrgäste standen herum, keiner kam der Frau zu Hilfe. Auch BVG-Mitarbeiter wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Als sie weglief, nahm der Täter die Verfolgung auf. Er ließ dann aber von ihr ab und blieb scheinbar teilnahmslos auf dem Bahnsteig stehen. Nur eine Frau gab ihr Beistand. Sie hatte das Geschehen aus einem fahrenden Zug beobachtet, stieg die nächste Station aus und fuhr sofort wieder zurück. Das dauerte zwei, drei Minuten. Erst als die herbeigerufene Polizei eintraf, war der Albtraum vorbei. Die Uniformierten kannten ihren Pappenheimer. Er gehörte zu ihren Stammkunden. Sie nahmen seine Personalien auf - und schickten ihn wieder nach Hause.

R. lebt seit Jahren in einem Heim für betreutes Wohnen. Auch dort war man nicht vor ihm sicher. Auch dort schlug er unberechenbar um sich. Aus Westfalen war er vor Jahren nach Berlin gezogen, um hier als Maurer zu arbeiten. In der Anonymität der Großstadt tauchte er ein, ohne Freunde, ohne Helfer. Er schmiss seine Arbeit hin, soff sich voll. Frank R. war ein klassischer Einzelgänger. So schwirrte er ziel- und interessenlos durch Kreuzberg und wurde zu einer Art tickenden Zeitbombe. Nach ein, zwei Bier verlor er die Fähigkeit zur Steuerung. Die U-Bahn-Attacken wurden von Videokameras dokumentiert - doch R. bestreitet vehement, die schlagende Person zu sein. Es muss, so sagt er, immer ein anderer gewesen sein, obwohl er klar zu erkennen ist. Auch an seine mehrfachen Behandlungen im Urban-Krankenhaus hat er keine Erinnerungen. Er streitet ab, jemals von einem Arzt untersucht worden zu sein.

Insgesamt 13 Taten sind in der Anklage vereint, auch diesmal wird es bei Verhandlungsende im März keine Verurteilung geben - aber die Chance, geheilt zu werden.

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