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Berlin: Akut Kranke können nicht auf Ämter warten
Ein Pflegedienst schildert Hürden bei der Gesundheitsversorgung von wohnungslosen Menschen in Berlin
Ein 52-jähriger Mann erleidet einen Schlaganfall, kann seine selbstständige Tätigkeit nicht fortführen und seine privaten Krankenversicherungsbeiträge nicht mehr zahlen. Deswegen kann er sich einer medizinisch notwendigen Behandlung nicht unterziehen und geht nicht mehr zum Arzt. Diese Geschichte erzählt Louise Zwirner von der Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen der Berliner Stadtmission.
Ein Obdachloser braucht dringend eine Darmspiegelung, doch er hat keine Unterkunft, um sich vor und nach dem Eingriff angemessen um seine Gesundheit zu kümmern. Seine Beschwerden werden schlimmer, aber ein Zimmer für ein bis zwei Tage zu organisieren, kann bis zu einem halben Jahr dauern. Diese Geschichte erzählt Uwe Mehrtens von der Union für Obdachlosenrechte.
Eine Frau lebt seit fünf Jahren an einer Bushaltestelle und lässt sich endlich auf eine Versorgung in einer Pflegeeinrichtung für wohnungslose Menschen ein. Der Pflegedienst nimmt umgehend die Arbeit auf. Doch als schließlich Gutachter des Bezirksamts den Bedarf der Frau ermitteln, hat sich ihr Zustand bereits so weit verbessert, dass das Amt nicht alle Kosten der vorherigen Behandlung durch den Pflegedienst übernehmen will. Diese Geschichte erzählt Alexander Ebel vom Pflegedienst Domus Vita.
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Zwirner, Mehrtens und Ebel sind einer Einladung der Abgeordneten des Gesundheitssauschusses gefolgt. Am Montag, dem internationalen Tag der Pflege, diskutierten sie die Schwierigkeiten und Hürden bei der Versorgung wohnungsloser und obdachloser Menschen in Berlin. Vor allem lange Bearbeitungszeiten und abgelehnte Anträge auf Kostenübernahmen durch Behörden und Ämter erschweren die akute und medizinisch notwendige Versorgung, berichten die Expert*innen aus ihrer Praxis.
»Die Zusammenarbeit mit den Bezirksämtern ist für uns die größte Herausforderung«, sagt Ebel. Sein Pflegedienst versorgt unter anderem die Bewohner*innen von zwei auf Pflegebedürftige spezialisierten Wohnungslosenunterkünften. Wenn Menschen dort aufgenommen werden, seien diese oft »schwerst verwahrlost« von ihrem vorherigen Leben auf der Straße. »Wir müssen dann sofort loslegen, um akute Wunden zu versorgen«, sagt Ebel. Domus Vita muss dann in Vorleistung gehen, denn die Bezirksämter brauchen »Wochen bis Monate«, um den entsprechenden Pflegebedarf zu bewilligen und die anfallenden Kosten zu übernehmen.
Wenn die Bewilligung ausbleibt, schließen sich Widerspruchsverfahren und Prozesse am Sozialgericht an, die noch einmal viel Zeit in Anspruch nehmen. Im schlimmsten Fall bleibt der Pflegedienst auf den Kosten sitzen. Das passiere vor allem, wenn die Patient*innen vor der Klärung der Kostenübernahme versterben. »Dann ist plötzlich niemand mehr zuständig«, sagt Ebel.
»Die Zusammenarbeit mit den Bezirksämtern ist für uns die größte Herausforderung.«
Alexander Ebel Pflegedienst Domus Vita
Auch für die Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen sind lange Bearbeitungszeiten der Behörden ein Problem. Denn viele der Menschen, die die Beratungsstelle aufsuchen, brauchen eine akute medizinische Behandlung, berichtet Zwirner. Sie können nicht darauf warten, bis der Versicherungsanspruch geklärt ist und sie entweder durch die Krankenkassen oder durch andere Stellen abgesichert werden. Die Clearingstelle organisiert in diesen Fällen eine Kostenübernahme – das sei bei 56 Prozent der Fälle notwendig.
Ein weiteres Problem sei die schlechte Beratung zur Krankenversicherung bei den Krankenkassen und in den Behörden, die zu abgelehnten Anträgen führe. »Schnellere Bearbeitungszeiträume, vorläufige Leistungsgewährung im Krankheitsfall sowie die Bündelung von kompetenten Ansprechpersonen in Ämtern und Behörden zum Thema Krankenversicherung sind aus unserer Sicht dringend notwendig, um eine adäquate und effiziente Versorgung sicherzustellen«, sagt Zwirner.
Der Senat hat ein Konzept zur niedrigschwelligen ambulanten Gesundheitsversorgung für Menschen ohne eigenen Wohnraum ausgearbeitet, so Ellen Haußdörfer (SPD), zuständige Staatssekretärin der Senatsgesundheitsverwaltung, im Ausschuss. Nun müsse an der Umsetzung gearbeitet werden. Außerdem arbeite man an der Verbesserung der Kooperation mit den Behörden. »Das bedeutet, wir richten feste Ansprechpersonen in den Jobcentern, Sozialämtern und Krankenkassen ein zur direkten Kommunikation.« Haußdörfer erhofft sich darüber hinaus klarere Verantwortlichkeiten der unterschiedlichen Stellen durch die Berliner Verwaltungsreform.
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