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Tiergarten: Bushaltestelle in Gedenken an queeren Sexualforscher
Am Tiergarten ist eine Bushaltestelle nun Gedenkort für den jüdischen Sexualforscher Magnus Hirschfeld
»Magnus Hirschfeld und seine Wegbegleiter*innen sind tief mit unserer Regenbogenhauptstadt verbunden«, sagt Cansel Kiziltepe (SPD). Die Senatorin für Gleichstellung weiht am Montagmorgen im Tiergarten eine temporäre Gedenkhaltestelle für den homosexuellen Arzt und Sexualwissenschaftler ein. Der Ort ist nicht zufällig gewählt. Die Haltestelle Haus der Kulturen der Welt befindet sich am nördlichen Ende des Tiergartens – dort, wo sich das von Hirschfeld gegründete Institut für Sexualwissenschaft befand, bis die Nazis es 1933 zerstörten.
Der neue Gedenkort ist eine typische BVG-Haltestelle. Das Glas des Wartehäuschens ist allerdings foliert und mit Texten und Bildern zum Institut für Sexualwissenschaft und Hirschfeld bedruckt – eine Miniaustellung, die für sechs Wochen zu sehen sein wird. Länger geht nicht, die Folierung muss regelmäßig gewartet werden und in Berlin ist Vandalismus immer ein Problem. Anlass der Einweihung ist der zweite vom Land Berlin begangene »Magnus-Hirschfeld-Tag« am 14. Mai, dem 90. Todestag des Wissenschaftlers. Eingerichtet wurde die Gedenkhaltestelle von Berlins Queerbeauftragtem Alfonso Pantisano in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft und dem Unternehmen Wall GmbH.
»Das Besondere an dieser Gedenkhaltestelle ist: Sie verschafft dem Ganzen einen Kontext«, sagt Helmut Metzner, Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. An anderen Gedenkzeichen könnte man die Rolle Hirschfelds nicht gleich einordnen. »Hier wird dieses Wissen vermittelt.«
»Viele denken, dass das, was wir heute als Themen wieder hier auf der Tagesordnung haben, wie Vielfalt, wie Gleichberechtigung, wie Selbstbestimmung, ein neuer Trend sind«, sagt Pantisano. Hirschfeld lehre, dass diese Themen schon in den 1920er Jahren Bestandteil des Lebens in Berlin waren. Pantisano verweist auf einen wenig bekannten Umstand: Heutzutage gebe es in Berlin vielleicht 50 queere Locations. »Doch 1929 hatten wir in Berlin über 200 queere Lokale, Cafés, Bars, Tanzlokale. In denen Menschen einfach leben und sein durften, wie sie auch eben waren.«
In diesem Berlin lebte und wirkte Hirschfeld. »Wir haben hier einen Urvater der Emanzipationsbewegung, dessen Wirken man gar nicht hoch genug schätzen kann«, sagt Helmut Metzner zu »nd«. Alles, was man zuletzt diskutiert habe, etwa das Selbstbestimmungsgesetz, eine Umsetzung dessen, was Hirschfeld bereits 1926 mit seiner Geschlechtskunde zum Ausdruck gebracht habe. »Er hat ja selber eine Theorie vertreten, die nicht von zwei, drei oder x, sondern von 43 640 721 Geschlechtern spricht, was letztlich nur heißt, dass jeder Mensch sein eigenes Geschlecht hat und dafür Würdigung erfahren sollte«, führt Metzner aus. Man könne von Hirschfeld lernen, dass menschliche Individualität entscheidend sei.
»Wir haben hier einen Urvater der Emanzipationsbewegung, dessen Wirken man gar nicht hoch genug schätzen kann«
Helmut Metzner
Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
Dass man sich heutzutage wenig an Hirschfeld und seine Forschung erinnere, liege nicht zuletzt daran, dass alles, was er auf die Beine gestellt hatte, von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht wurde, so Metzner. Nach der Machtergreifung wurde das Institut von nationalsozialistischen Studierenden gestürmt und geplündert, viele Bücher der Bibliothek fielen der Bücherverbrennung zum Opfer. Hirschfeld selbst war zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschland. Er verstarb 1935 im Exil in Nizza.
Nach 1945 war Hirschfeld so gut wie vergessen. In der Zeit des Wiederaufbaus habe man nach neuen Orientierungswerten gesucht und sich leider an konservativen, fast reaktionären Dingen aufgerichtet, so Metzner. Es sei nicht zuletzt der ehrenamtlichen Arbeit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, die seit den 80ern zu Hirschfeld forscht, zu verdanken, dass heute wieder mehr über ihn und sein Umfeld bekannt sei.
Die Erinnerung an Hirschfeld und seine Wegbegleiter*innen – darunter viele Frauen und auch trans Personen, die im Institut angestellt wurden, weil sie sonst keine Arbeit fanden – verknüpfen alle auf der Einweihung Anwesenden mit der derzeitigen Situation. Senatorin Kiziltepe sagt, es sei angesichts dessen, dass Errungenschaften der vergangenen Jahre aktuell angegriffen würden, umso wichtiger, Solidarität zu zeigen. »Wir wollen ein Berlin, in dem jeder nach seiner Façon leben soll und kann.«
Der Queerbeauftragte Pantisano pflichtet ihr bei und verweist auf den Angriff auf die »Tipsy Bar«. Anfang Mai hatten Unbekannte eine Regenbogenfahne der queeren Bar in Prenzlauer Berg abgerissen und in Brand gesteckt. »Die Angriffe werden immer stärker, immer brutaler.« Aber auch auf politischer Ebene gebe es Angriffe, die weltweit passierten. »Wir müssen dafür kämpfen, dass das, was wir errungen haben, nicht wieder zurückgedreht wird.«
Helmut Metzner verweist darauf, dass es durchaus Fortschritte zu verzeichnen gebe. Dass die Landesregierung sich den Hirschfeldtag zu eigen gemacht habe, zeige, dass – anders als in den 1920er Jahren – die Politik und die Mehrheitsgesellschaft an der Seite der queeren Community stünden. »Man kann gar nicht deutlich genug unterstreichen, wie wichtig das ist.«
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