Hipster wissen, wer der Babo ist
Sind der deutschen Mittelschicht die Wutventile abhanden gekommen? - Haftbefehl in Hamburg
Am Ende klappt es doch noch mit der Energieübertragung: Nachdem der Rapper Haftbefehl, der im Hamburger Mojo Club unter anderem von seinen Kollegen Hanybal, Milonair und Capo unterstützt wird, zum zweiten Mal »Chabos wissen, wer der Babo ist«, zum dritten Mal »Ihr Hurensöhne« und zum vierten Mal »Ich rolle mit meim Besten« angestimmt hat, dreht der Pulk vor der Bühne endlich wie gewünscht durch. Mehrere Hamburg-habt-ihr-noch-Bock-zu-feiern-oder-sollen-wir-Schluss-machen-Ultimaten waren dafür nötig.
»Ich bin jetzt erst richtig warm geworden«, gibt »Hafti« nach eineinhalb Stunden zu Protokoll, und in der Tat: In der ersten Konzerthälfte hatte man bisweilen den Eindruck, er wäre gar nicht richtig da. Das mag an seinen etwas trägen Bewegungen liegen, an der entrückten Schläfrigkeit, die »Hafti« trotz aller Bekenntnisse zu Gewalt und Aktion oft ausstrahlt, oder an der Erschöpfung nach sieben Konzerten in neun Tagen. Vielleicht liegt es aber auch am Publikum, das zunächst recht sparsam mit dem Feedback ist, und überhaupt sehr artig. An der Garderobe warten alle brav in der Schlange, niemand drängelt, niemand rempelt, niemand tanzt aus der Reihe. Von den »Azzlacks«, die durch »Haftis« Songtexte und Videos marodieren, ist in Hamburg jedenfalls kaum jemand gekommen.
Dafür viele junge und nicht mehr ganz so junge Männer wie ich, die Mittelschicht aus St. Pauli, dem Schanzenviertel und dem Hamburger Umland. Bei ihnen hat sich Haftbefehl, der derzeit führende »Straßenrapper« Deutschlands, eine feste Fanbasis erobert. Die Zeitungen lieben den »Babo«, und das nicht nur, weil er so schön vom kriminellen Leben erzählt und die Redakteurinnen und Redakteure großzügig mit 1a-Straßenslang und humorvoll-gewalttätigen Bildern versorgt. Vor allem hat Haftbefehl das Erfolgsrezept des Gangsterraps gekonnt auf deutsche Verhältnisse übertragen: Seine Selbstinszenierungen eignen sich ideal als Projektionsfläche für die Ängste und unterdrückte Wut der weißen deutschen Mittelschicht. Der Kurde. Der Drogendealer. Die rohe Gewalt, die Entschlossenheit zum Aufstieg.
Haftbefehl beschreibt und erschafft in seinen Songs die kalte Welt der Frankfurter Vorstadt, in der einem nichts geschenkt wird, alle vom großen Geld träumen und natürlich nur die ganz Harten weiterkommen. Ein deutsches Leben ohne Zweifel und Sinnfragen: »Nix mit Hollywood - Frankfurt, Brudi.« Angenehmer Grusel. Dazu dezente Hinweise, dass das alles etwas mit Klasse und Rassismus zu tun hat - »Azzlacks sterben jung« - und natürlich die überwältigenden Beats: »Lass die Affen aus’m Zoo, pu pu pu pu!« Es klingt wirklich super.
Warum funktioniert das gerade jetzt so gut? Sind der deutschen Mittelschicht die Wutventile abhanden gekommen? Früher tobten wir uns in Jugendkulturen aus - Punk, Metal, Hardcore, HipHop - heute wird diese Zeit für Schule, Studium und Berufsperspektive benötigt. Aber die Wut ist natürlich nicht weg (man sieht es in den Kommentarspalten des Internets), nur wegdelegiert - an »Hafti« und seine »Azzlacks«. Für die Kinder der Mittelschicht geht es nicht um den Ausweg aus dem Ghetto, das eigene Leben ist eher bestimmt von Abstiegsangst und Statuserhalt. Wenn wir es wie die Generation der Eltern zu etwas bringen wollen, dann widmen wir uns besser der Selbstoptimierung und kontrollieren »destruktive Gefühle«. Und sind umso faszinierter von Kulturgenres, die Macht, Gewalt und Männlichkeit auf brachiale Weise inszenieren.
Dass »Hafti« inzwischen ökonomisch erfolgreicher sein dürfte als die meisten seiner Hipsterfans, deren furchteinflößendes migrantisches Unterklassegegenbild er präsentiert, ist eine hübsche Fußnote dieser Geschichte. (Auf die Frage, ob er sich fremd fühle in Deutschland, gab er der »Spex« kürzlich die elegante Antwort: »Nein, ich fühle mich nicht fremd, ich habe dieses Jahr 100 000 Euro Steuern gezahlt.«) Vielleicht ist das der Grund, weshalb Hafti beim Konzert immer wieder schmunzelt. Vielleicht hat er aber auch einfach Spaß, denn wie gesagt: die Energieübertragung funktioniert. Zum Schluss spricht sein Begleiter Milonair ein »großes Danke an die Chaoten hier vorn« aus. Ritterschlag.
Eines ist nach fast drei Stunden »Hafti« & Co. jedenfalls klar: Hipster wissen, wer der Babo ist. Und jetzt schnell nach Hause.
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