Der gewaltsame Einsatz von Brechmitteln gegen mutmaßliche Drogendealer hat in Hamburg vermutlich das erste Todesopfer gefordert.
Der aus Kamerun stammende Archidi J. (19) erlitt am Sonntag einen Herzstillstand und fiel ins Koma, nachdem er 41 in Plastikfolie eingeschweißte Rauschgiftkügelchen erbrochen hatte. »Ein Überleben ist sehr unwahrscheinlich«, bewerte Simone Käfer, Sprecherin der Justizbehörde, gestern den Zustand des für hirntot erklärten jungen Mannes. Der Afrikaner, der beim Dealen im Stadtteil St. Georg beobachtet worden war, wie er die Kügelchen verschluckte, ahnte sein trauriges Schicksal wohl. »Ich werde sterben«, brüllte er immer wieder, als eine Ärztin am Rechtsmedizinischen Institut des Universitätskrankenhauses Eppendorf versuchte, ihm eine Magensonde zu setzen.
Weil der als »Intensivdealer« bekannte Mann sich mit Tritten, Schlägen und Schreien gegen das Einflößen des Brechwurzelsirups Ipecacuanha wehrte, musste er - auf einem Stuhl sitzend - von vier Polizisten festgehalten werden. Erst im dritten Versuch klappte die Verabreichung von 30 Millilitern des Gebräus, das in 0,8 Liter Wasser auflöst in den Magen gepumpt wurde. Nach dem Erbrechen der Crack- und Kokainkügelchen verfärbte sich das Gesicht des in Nordhausen (Thüringen) gemeldeten Asylbewerbers. Er erlitt einen Herzstillstand, auf den die Mediziner offensichtlich zu spät reagierten. Die Folge: Hirntod. Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fährlässigen Tötung eingeleitet.
Rechtliche Schritte erwägen auch Mediziner. »Der Vorgang erfüllt den Tatbestand der vorsätzlichen schweren Körperverletzung und widerspricht allen Bestimmungen der Berufsordnung der Hamburger Ärztinnen und Ärzte«, formulierte Dr. Bernd Kalvelage von der Hamburger Ärzteopposition in einem Offenen Brief an den Präsidenten der Ärztekammer, Frank Ulrich Montgomery. Er forderte Konsequenzen: Gegen den Leiter der Rechtsmedizin solle ein Berufsordnungsverfahren eingeleitet werden. In einem Radiointerview verurteilte Kalvelage den Brechmittel-Einsatz durch seine Berufskollegen noch harscher: »Es fehlt nicht mehr viel, dann ist man bei Folter!« Die deutlichen Worte blieben nicht ohne Wirkung. Montgomery forderte den Senat auf, das gewaltsame Verabreichen von Brechmitteln an Drogendealer sofort zu beenden und stattdessen Abführmittel einzusetzen.
Die Kritik der Ärzte stößt bei der Hamburger Regierung allerdings auf taube Ohren. »Wir werden am Prinzip des Einsatzes von Brechmitteln trotz des bedauerlichen Vorfalls nichts ändern«, erklärten Innensenator Ronald Schill und Justizsenator Roger Kusch (CDU) unisono. Eine Abkehr wäre ein »falsches Signal an Kriminelle«, so Schill. Der »tragischen Zwischenfall« ist für Kusch der Preis, den die politische Arbeit verlange. Das Todesrisiko bei solch einer Prozedur sei »allen im vollem Umfang bewusst« gewesen.
Mit dem Einsatz Brechwurzel-Saftes wurde in der Hansestadt noch zu Zeiten der rot-grünen Koalition unter dem damaligen Innensenator Olaf Scholz (SPD) begonnen. Während die Sozialdemokraten Brechmitteleinsätze zur Überführung von Drogendealern weiter befürworten, rudert die Grün-Alternative Liste zurück. Die Chefin ihrer Bürgerschaftsfraktion, Krista Sager, fordert den »sofortigen Stopp« und eine »Neubewertung« des Risikopotentials bei der Vergabe von Brechmitteln.
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