Die Schweizermacher

Im Kino: »Neuland« von Anna Thommen

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 3 Min.
Wie es ist fremd zu sein und weder die Landessprache noch die Kultur zu verstehen, zeigt Anna Thommens Abschlussfilm einer Schweizer Kunsthochschule. Ohne Erklärungen zeigt er Verzweiflung, Hoffnung und Einsamkeit.

Sie sprechen und verstehen die Landessprache nicht, den lokalen Basler Dialekt schon gar nicht, sie sind neu hier und fremd und haben Sehnsucht nach der Heimat, nach den toten Lieben, nach den Zeiten vor Krieg, Flucht, Verzweiflung und einer oft monatelangen Reise. Sie sind Albaner, Eritreer, Afghanen. Die wenigsten sind freiwillig von zu Hause weggezogen, manche haben Schlimmes erlebt. Sie sind jung, Jugendliche und junge Erwachsene in einem fremden Land, auf einem fremden Kontinent.

Und sie treffen sich in einer Klasse wieder, die ihnen bei der Eingewöhnung helfen und ihr Leben in sozial und finanziell geregelte Bahnen überführen soll: in der zwei Jahre währenden Integrations- und Berufswahlklasse an einer Basler Schule. Zwei Jahre Zeit, um Hochdeutsch, vielleicht ein bisschen Dialekt und die landläufigen Umgangsformen zu lernen - dass in der Schweiz niemand in der Schule vom Lehrer geschlagen werden darf, zum Beispiel. Oder dass Schulhefte »kopfüber« genutzt werden, weil man in der Schweiz von links nach rechts und nicht von rechts nach links hineinschreibt. Und natürlich das Führen von Bewerbungsgesprächen.

»Neuland«, zu recht vielfach ausgezeichnet, ist Anna Thommens Abschlussfilm an einer Schweizer Kunsthochschule. Ein Film, der weder erklärenden Kommentar noch Musik benötigt, um Verzweiflung und Hoffnung, Einsamkeit, Fremdheit und zögernde erste Schritte in der eigenartigen neuen Kultur ebenso nachfühlbar zu machen wie das freundliche, manchmal etwas unbeholfene, gelegentlich durchaus strenge Auftreten des Lehrers dieser Klasse von Entwurzelten. Für Christian Zingg, einen unbeirrbaren Idealisten mit dabei höchst realistischem Blick auf ihre tatsächlichen Chancen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt, sind seine Schüler spürbar nicht nur Namen auf einer Zensurenliste, sondern Personen, Schicksale, Einzelfälle. Jeden einzelnen möchte er am Ende reüssieren sehen, jedes einzelne Scheitern, jeder Schulabbruch tun ihm weh.

Ehsanullah fügt sich Schnittwunden zu, weil sein Asylantrag abgelehnt wurde, er lernt schwerfällig und ist zu Hause im ländlichen Afghanistan noch viel Geld schuldig, und er weiß außerdem, dass seine Familie Saatgut und Land verliert, wenn er die Schlepper nicht bald abbezahlt. Als er einen Hilfsjob in einer Wurstbraterei annimmt, statt die Schule abzuschließen und eine sicher scheinende Lehrstelle in einem Landbaubetrieb anzunehmen, redet Christian Zingg ihm erst mal ins Gewissen. Und verzweifelt dann bald selbst, als er die Implikationen der Situation versteht, in der der junge Mann sich befindet. 6000 Dollar, die kann auch er ihm nicht einfach beschaffen. So wird Ehsanullah, einer der Protagonisten des Films, erst einmal weiter Würstchen braten. Und vielleicht irgendwann in die Schule zurückkehren und doch noch sein Diplom machen. Um dann (vielleicht) eine Kochlehre anzutreten.

Diese Schüler jenseits des Schulpflichtalters sind, das darf man angesichts der jüngsten Mittelmeer-Toten nicht vergessen, die glücklichen unter den Vielen, die in Europa Schutz, Sicherheit, ein Einkommen und vielleicht sogar eine neue Heimat suchten. Doch auch diese glücklich Angekommenen haben noch lange kein unbeschwertes, erfülltes und selbstbestimmtes Leben erreicht. Sie haben Ängste zu verarbeiten und Hürden zu überwinden, die weit über das hinausgehen, was manchen Einheimischen am Finden einer Ausbildungs- oder Arbeitsstelle verzweifeln lässt. Dafür ist dieser Film ein anrührender, ein weiterer, ein immer wieder dringend benötigter Beleg.

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