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Kein Felsplateau im Nirgendwo

Lampedusas Bürgermeisterin Giusi Nicolini und die Flüchtlingsdramen

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich danke der Küstenwache dafür, dass sie die Toten der letzten furchtbaren Tragödie nicht zu uns nach Lampedusa gebracht hat. Auf unserem Friedhof ist kein einziger Platz mehr frei. Aber wir sind weiterhin solidarisch. Gleich nach dem Bekanntwerden des Unglücks sind viele unserer Fischerboote ausgelaufen, um zu sehen, ob sie irgendwie helfen konnten. Und das, obwohl das Flüchtlingsboot 125 Seemeilen südlich von unseren Stränden kenterte.«

Giusi Nicolini, seit 2012 Bürgermeisterin der kleinen Insel im Mittelmeer, ist - wie so häufig - gleichzeitig tieftraurig und wütend. »Jetzt geschieht genau das, was geschehen musste. Und ich sage, dass es noch mehr Tote geben wird. Wenn jemand aus einem brennenden Haus fliehen muss, dann flieht er einfach. Und in unserem Fall über das Meer.« Sie hofft inständig, dass Europa dieses Mal endlich etwas unternimmt: »Man kann solch einem Drama doch nicht untätig zusehen. Und man bedenke, dass es noch nicht mal Sommer ist …«

Seit Jahren kämpft die mutige Frau dafür, dass Europa in Sachen Flüchtlingspolitik umdenkt. »Vor zwei Jahren kam Papst Franziskus nach Lampedusa. Es war seine erste Reise überhaupt. Er sprach damals von 20 000 Toten, aber auch das hat nicht ausgereicht, um die Mächtigen aufzurütteln. Seitdem sind wieder Tausende Menschen ertrunken.« Giusi Nicolini hofft, dass jetzt, wo erneut so viele Migranten den Tod gefunden haben, »sich das Grauen in Hoffnung verwandelt, in die Hoffnung, dass man endlich an der afrikanischen Küste, auf dem Festland eingreift«. Sie fordert humanitäre Kanäle, sichere Wege für die Flüchtlinge, die ihre Länder verlassen müssen, damit sie nicht mehr zu diesen lebensgefährlichen Überfahrten gezwungen sind.

Seit Jahren ist die 54-Jährige eine Symbolgestalt, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen und die humanitäre Katastrophe im Mittelmeer geht. Auf ihrer kleinen Insel, die viel näher an Afrika als am europäischen Festland liegt, sind in den letzten Jahren Zigtausende Menschen gestrandet - und auch viele, viele Leichen.

Einige Monate nach ihrem Amtsantritt wurde Nicolini auch über die italienischen Grenzen hinaus bekannt, als sie in einem offenen Brief die Situation auf der Insel beschrieb. »Ich bin die neue Bürgermeisterin von Lampedusa. Ich wurde im Mai 2012 gewählt, und bis zum 3. November wurden mir bereits 21 Leichen von Menschen übergeben, die ertrunken sind, weil sie versuchten, Lampedusa zu erreichen. Das ist für mich unerträglich und für unsere Insel ein großer Schmerz. Wir mussten andere Bürgermeister der Provinz um Hilfe bitten, um die letzten elf Leichen würdevoll zu bestatten. Wir hatten keine Gräber mehr zur Verfügung. Wir werden neue anlegen, aber jetzt frage ich: Wie groß muss der Friedhof auf meiner Insel noch werden?«

Mit ihrer Wahl hatte damals eigentlich niemand wirklich gerechnet. Lampedusa ist seit eh und je eher konservativ: Die Einwohner lebten einst vom Fischfang und heute vom Tourismus. »Unruhestifter«, egal ob Umweltschützer oder Migranten, mag man dort eigentlich nicht besonders. Doch Nicolini hatte sich gerade dadurch einen Namen gemacht, dass sie den wunderschönen Strand Spiaggia die Conigli, laut »New York Times« der zweitschönste der Welt, auf dem Schildkröten ihre Eier ablegen, verteidigte. Sie band die Fischer in ihren Kampf ein und zeigte den Touristen, wie man dieses einmalige Ökosystem schützen und es trotzdem im Urlaub nutzen kann. Bei den Wahlen 2012 bekam sie 1005 Stimmen, was ausreichte, um ins kleine Rathaus der Insel einzuziehen. Im Oktober 2013 gingen dann die Bilder von der schmalen Frau um die Welt, wie sie stundenlang im Hafen mit tränenüberströmtem Gesicht die Leichen von über 330 Menschen in Empfang nahm, die nur wenige Kilometer von Lampedusa entfernt ertrunken waren. Damals konnte jeder sehen, wie sich die Einwohner der Insel mit ihren Booten stundenlang abmühten, um möglichst viele Überlebende zu retten und die Ertrunkenen zu bergen. Das Bild von den scheinbar unendlich vielen Särgen, die in einem Flugzeughangar aufgebahrt wurden, hat Millionen Menschen erschüttert und nicht nur Nicolini hoffte damals, dass Europa seine Flüchtlingspolitik überdenken würde. Tatsächlich aber hat sich allein Italien mit der Rettungsaktion »Mare Nostrum« des Problems angenommen; Europa blieb gegenüber den Hilferufen taub und stärkte mit »Triton« allein den Schutz der Grenzen.

Im vergangenen Jahr erhielt die Bürgermeisterin von Lampedusa vom Europaparlament die Auszeichnung »Europäischer Bürger 2014«. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass die Einwohner der Insel tagtäglich den ankommenden Migranten helfen. Die Frau, die niemals einer politischen Partei angehörte, aber als Heranwachsende Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung war, hielt bei der Preisverleihung in Brüssel eine hochpolitische Rede, in der sie erklärte, dass das Flüchtlingsproblem langfristig und nicht als Notsituation behandelt werden muss.

Sie will auch nicht, dass Lampedusa als ein kleines Felsplateau irgendwo im Nichts wahrgenommen wird. »Wenn jemand behauptet, dass wir die Peripherie sind«, sagt sie lachend, »dann braucht er sich nur mal die Landkarte anzusehen: Wir sind genau in der Mitte!«

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