Interdisziplinärer Ausflug

Die Theatertruppe Rimini Protokoll versucht sich als Ausstellungsgestalter

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Die darstellenden Künste haben Rimini Protokoll bereits erobert und verändert. Einladungen zum Berliner Theatertreffen, der Mülheimer Dramatikerpreis und ein Silberner Löwe der Theaterbiennale von Venedig sind Belege für die Anerkennung der postdramatischen Theatertruppe. Dass heute kaum ein jüngerer Theaterkünstler auf eine Produktion mit sogenannten »Experten des Alltags« verzichtet - also mit Theaterlaien, die auf der Bühne von Bereichen, in denen sie sich besondere Kompetenz erarbeitet haben, berichten - ist Ausdruck dafür, dass die von den einstigen Postdramatik-Studenten aus Gießen entwickelten Methoden ihren Platz neben der althergebrachten Praxis des Inszenierens dramatischer Texte eingenommen haben. Jetzt setzt die Truppe zu einem Sturm auf die bildenden Künste an.

Die Gelegenheit dazu gibt ihr der Kunstraum Praxes. Für ein halbes Jahr durfte die Gruppe in drei Zyklen einen Raum im Obergeschoss mit Elementen aus ihren Theaterproduktionen bespielen. Im ersten Zyklus waren vor allem die Versammlungssimulationen von Rimini Protokoll nachzuerleben - »Deutschland 2« etwa, eine von den Teilnehmern der Performance nachgesprochene Bundestagsdebatte, dann »Hauptversammlung«, eine in die reale Hauptversammlung der Daimler AG eingebettete Intervention, und schließlich das Politik-Planspiel der »Weltklimakonferenz«, das die Truppe im letzten Jahr in Hamburg entwickelte.

Zyklus 2 war den »100% Stadt«-Projekten gewidmet. Darin werden 100 Protagonisten aus verschiedenen Städten zu Einkommen, Arbeits- und Familienverhältnissen sowie sozialen Praktiken befragt. Sie geben so ein zwar fiktives, aber doch sehr authentisch wirkendes Bild der Stadt ab, in der sie leben und aus deren Bewohnern sich ihr Publikum rekrutiert. Dank einer Wand aus 16 Monitoren, die als solche schon eine skulpturale Wirkung besitzt, konnte man parallele Einblicke in die Verfasstheit von eben 16 Städten gewinnen. Es zeigte sich dabei, dass auch die Teilnehmer dieser Avantgardetheaterform der alten bürgerlichen Klientel angehören, die man als Liebhaber der Muse Thalia vermutet: weitgehend in Arbeit, als brave Konsumenten und damit Wirtschaftsankurbler erstaunlich oft mit Schulden behaftet, so gut wie keiner hat je einen Gesetzesbruch begangen und kaum einer im Gefängnis gesessen. Theaterrevolutionen lassen sich mit solchen Protagonisten prima anzetteln, gesellschaftliche Umwälzungen wohl eher nicht.

Der aktuelle Zyklus, der dritte und letzte, ist der auch gegenwärtig in Berlin an unterschiedlichen Orten gezeigten Produktion »Hausbesuch Europa« gewidmet. Eine lange Tafel für ein gutes Dutzend Personen ist aufgebaut. An den Wänden Bilder von politischen Zusammenkünften der Vergangenheit - einer UN-Hauptversammlung etwa und des Wiener Kongresses zur Neuordnung Europas vor 200 Jahren. In Metallregalen sind einige Bausteine von Abstimmungstechnologien zu sehen. Und auf dem Tisch kann man dank Mobiltelefonen und Kopfhörern in den Verlauf dieses Planspiels um eine Regierung Europas Einblick nehmen. Die Teilnehmer waren etwa aufgefordert, Lösungskonzepte aus Pegida-Perspektive für die Situation der Flüchtlinge zu entwickeln. Die Begründung dafür, solche problematischen Positionen einzunehmen, entbehrte nicht des Charmes: Theater sei eine Verabredung, die man auch einzuhalten habe. »Romeo und Julia« etwa funktioniere nicht, wenn ein Romeo-Darsteller sich plötzlich entscheide, Julia unattraktiv zu finden.

Das Ausstellungssetting bot gute Überblicke über einzelne Rimini-Produktionen. Im Falle der »100% Stadt«-Projekte kam sogar noch ein echter Erkenntnisgewinn hinzu. Verblüffenderweise war man in diesem Kontext, in dem eigentlich schon viel länger und intensiver die Bedingungen von Wahrnehmung hinterfragt werden, auf die ganz alte reine Betrachtersituation zurückgeworfen. In vielen Rimini-Projekten an sich gibt man diese Betrachterposition eigentlich auf und wird zum erkennenden Mitgestalter. Diese Qualitäten sollten bei den nächsten Ausflügen ins Terrain der bildenden Kunst stärker berücksichtigt werden.

In der aktuellen Form ist die Praxes-Show vor allem eine Präsentation von Praktiken und Methoden. Das reicht für den Anfang. Es ist aber noch viel Raum für Entwicklung bei der Eroberung der bildenden Kunst.

Praxes, Alexandrinenstr. 118-121. Bis 13. Juni, Mi-So 13-18 Uhr, Eintritt frei

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal