Der eindimensionale Geist

Seit Jahrzehnten erzielen Menschen im IQ-Test immer bessere Ergebnisse. Eine Steigerung der Intelligenz ist damit jedoch nicht zwangsläufig verbunden. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Jahr 1984 machte der in Neuseeland lehrende amerikanische Politologe James R. Flynn eine verblüffende Entdeckung: Der Intelligenzquotient (IQ) der US-Amerikaner war laut einer Auswertung von 73 Studien zwischen 1932 und 1978 im Schnitt um 14 Punkte gestiegen. Drei Jahre später dehnte Flynn seine IQ-Untersuchungen auf weitere 13 Länder und Regionen aus, zu denen neben Frankreich, Großbritannien, Japan und Neuseeland auch die beiden deutschen Staaten gehörten. Im Fall der DDR stützte er sich dabei auf Daten aus Leipzig, die vom dortigen Zentralinstitut für Jugendforschung erhoben und veröffentlicht worden waren. Danach stieg zwischen 1968 und 1978 der IQ der getesteten DDR-Schüler um 10 bis 15 Punkte. Nach Auswertung der Daten aller 14 Länder und Regionen kam Flynn zu dem Schluss, dass man für die vergangenen Jahrzehnte von einem Anstieg des IQ zwischen 5 und 25 Punkten pro Generation ausgehen könne.

Auch in anderen Untersuchungen wurde der sogenannte Flynn-Effekt bestätigt, der kurz gesagt folgende Tatsache zum Ausdruck bringt: Ein durchschnittlicher Testteilnehmer würde in einer vorgegebenen Zeit heute weitaus mehr Aufgaben eines Intelligenztests lösen als ein Testteilnehmer vor drei, vier oder fünf Jahrzehnten. Aus diesem Grund müssen IQ-Tests in regelmäßigen Abständen schwieriger gemacht bzw. nachnormiert werden, damit der aktuelle Mittelwert wieder bei 100 liegt. Denn die Häufigkeitsverteilung des IQ in der Gesamtbevölkerung entspricht einer Normalverteilung (Gaußkurve), die bei dem Wert 100 ihre Spitze hat.

Was aber bedeuten solche Korrekturen für unser Verständnis von Intelligenz? Werden die Menschen, so wie der Flynn-Effekt suggeriert, mit der Zeit tatsächlich immer intelligenter? Eine solche Annahme ist natürlich absurd. Auf die Spitze getrieben würde sie nämlich bedeuten, dass der IQ unserer Ururgroßeltern nach heutigen Maßstäben kaum ausgereicht hätte, um eine normale Schule zu besuchen. Auf der anderen Seite müssten inzwischen lauter Intelligenzbestien unter uns weilen, wie der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer spöttelt und ergänzt, dass ihm dergleichen leider noch nicht aufgefallen sei.

Doch wie ist der Flynn-Effekt dann zu erklären? Gründet er womöglich auf subtilen Fehlern bei der Erhebung der Messdaten? Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Im Gegenteil. In einer bisher einzigartigen Übersichtsstudie haben die Psychologen Jakob Pietschnig und Martin Voracek von der Universität Wien die IQ-Daten von fast vier Millionen Menschen aus 31 Ländern ausgewertet. Dabei gelangten sie zu dem Ergebnis, dass der IQ im Zeitraum von 1909 bis 2013 um durchschnittlich drei Punkte pro Jahrzehnt zugenommen hat.

Allerdings vollzog sich dieser Anstieg nicht linear und war nicht in allen Testbereichen gleichermaßen ausgeprägt. Wie die Forscher in der Fachzeitschrift »Perspectives on Psychological Science« (DOI: 10.1177/ 1745691615577701) berichten, registrierten sie die größten Zuwächse in den Bereichen Logik und Abstraktionsvermögen. Dort werden in der Regel Fragen gestellt, die ein Mensch auch ohne großes Vorwissen beantworten kann. Bei reinen Wissensfragen ergab sich zwar ebenfalls ein Zuwachs, doch der fiel merklich geringer aus.

Hält man sich allein an die erhobenen Daten, dann ist der Intelligenzquotient in der Bevölkerung in den letzten 100 Jahren um etwa 30 Punkte gestiegen. Im Grunde ist eine solche Zahl unfassbar, denn sie markiert im Verständnis vieler Intelligenzforscher die Grenze zwischen »normaler« Intelligenz und Hochbegabung. Schon an dieser Stelle wird offenbar, dass der Wert des IQ ein viel zu grobes Maß ist, um das vielschichtige Phänomen der Intelligenz zu umfassen. Intelligenz ist eben nicht das, wie es gemeinhin heißt, was der Intelligenztest misst. In Wirklichkeit gibt der IQ nur über bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten von Menschen Auskunft, die zu unterschiedlichen Zeiten verschieden stark beansprucht werden, wie nicht zuletzt der Flynn-Effekt belegt. »Eine Person mit einer durchschnittlichen IQ-Testleistung von 100 Punkten im frühen 20. Jahrhundert hatte mit großer Wahrscheinlichkeit andere kognitive Fähigkeiten als eine Person mit einer scheinbar ›äquivalenten‹ Leistung von 70 Punkten heutzutage«, betonen Pietschnig und Voracek. Vielleicht sollte man hier besser sagen, dass für beide Personen jeweils andere kognitive Fähigkeiten von lebenspraktischer Bedeutung waren.

Diese Einsicht gewann der sowjetische Psychologe Alexander Luria bereits in den 1920er Jahren. Er führte Interviews mit russischen Dorfbewohnern, denen er unter anderem die Frage stellte: »Wo immer Schnee liegt, sind die Tiere weiß. Am Nordpol liegt immer Schnee. Welche Farbe haben die Bären dort?« Die Befragten, die solcherart hypothetisches Denken nicht gewohnt waren, antworteten etwa: »Ich kenne nur braune Bären, und ich rede nicht über Dinge, die ich nicht selbst gesehen habe.« Das ist eine durchaus treffliche Antwort, die davon ausgeht, dass reine Logik nichts über die Wirklichkeit aussagt. Letzteres vermag nur die Erfahrung, wie die Dorfbewohner aus dem täglichen Leben wussten. Bei einem IQ-Test allerdings wären sie mit dieser Einstellung gescheitert.

Doch kommen wir zurück auf den Flynn-Effekt, der unter Wissenschaftlern eine kontroverse Diskussion ausgelöst hat. Was sind im Einzelnen seine Ursachen? Mit Sicherheit keine genetischen Veränderungen, denn damit solche wirksam werden können, bedarf es erheblich größerer Zeiträume. Eine andere Spur verfolgte der britische Psychologe Richard Lynn. Er deutete den IQ-Anstieg als Nebenprodukt des säkularen Trends, der Tatsache also, dass die Menschen im 20. Jahrhundert von Generation zu Generation immer größer wurden. Währenddessen sei auch das Gehirn gewachsen, vermutete Lynn. Gleichwohl taugt dies nicht als Erklärung, denn zwischen Gehirngröße und menschlicher Intelligenz besteht kein direkter Zusammenhang. Mitunter wurden, um den Anstieg des IQ zu deuten, auch recht abenteuerliche Hypothesen ersonnen. Einer solchen zufolge soll die Entfernung von Bleirohren aus der Trinkwasserversorgung zu einer Art Intelligenzschub geführt haben.

Heute besteht zumindest insoweit Einigkeit unter Psychologen, als dass Einflüsse der Umwelt für den Flynn-Effekt verantwortlich sind. Das zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die jetzt ausgewerteten Daten. So stieg der IQ in Europa vor und nach dem Zweiten Weltkrieg merklich schneller als während des Krieges. Bedenkt man, dass Kriege eine Zeit mangelhafter Ernährung und unregelmäßiger Schulbildung sind, findet sich hier ein wichtiger Hinweis auf die Ursachen des Flynn-Effekts.

Denn die genannten Faktoren - neben Ernährung und Bildung wären hier auch Hygiene und medizinische Versorgung zu nennen - spielen eine wichtige Rolle für die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Doch es kommt vermutlich noch etwas hinzu: Wenn eine Gesellschaft bestimmter kognitiver Fähigkeiten bedarf und sie entsprechend belohnt, werden immer mehr Menschen sich diese Fähigkeiten aneignen. Schon vor Jahren hatte der deutsch-amerikanische Psychologe Ulric Neisser den IQ-Anstieg auf die Tatsache zurückgeführt, dass die heranwachsenden Generationen im 20. Jahrhundert häufiger und früher als ihre Eltern mit Bildern, Mustern und Figuren konfrontiert wurden: im Kino, in Comics, in der Werbung, im Fernsehen. Auch den sogenannten Zauberwürfel könnte man hier als Trainingsobjekt anführen. Neissers Modell erklärt zwar nicht die gesamten IQ-Zuwächse, aber es macht zumindest plausibel, warum Kinder bei räumlich-visuellen Testaufgaben ihre Eltern häufig übertreffen.

In den letzten Jahrzehnten hat der Computer Einzug in viele Familien gehalten, dessen Bedienung neue Anforderungen an das Abstraktionsvermögen seiner Benutzer stellt, etwa beim Surfen im Internet oder beim Umgang mit Computerspielen. Das wiederum könnte laut Pietschnig ein Grund dafür sein, warum die stärksten IQ-Zuwächse im Bereich des abstrakten bzw. schlussfolgernden Denkens registriert wurden.

Die neue Übersichtsstudie enthüllt aber noch einen weiteren Trend: In den letzten Jahren hat sich vielerorts der IQ-Anstieg deutlich abgeschwächt; in einigen Ländern, zum Beispiel in Skandinavien, stagnieren die Werte sogar. Das legt die Vermutung nahe, dass die Umweltfaktoren, aus denen vormals die größten IQ-Zuwächse resultierten, zumindest in den Industrieländern ein Optimum erreicht haben. Beispiel Ernährung. Irgendwann bringe mehr und bessere Nahrung nichts mehr für den Geist, meint Pietschnig: »Dann werden die Leute nur noch dicker.« Denkbar ist aber auch, dass bei vielen jungen Menschen, die sich heute beinahe exzessiv mit digitalen Medien beschäftigen, die hierbei gewonnenen Fähigkeiten nicht ausreichen, um kognitive Defizite auf anderen Gebieten zu kompensieren. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, wird es nach Auffassung von Pietschnig und Voracek wohl nicht mehr lange dauern, bis sich der Flynn-Effekt umkehrt.

Bei allem Interesse an schwankenden IQ-Werten sollte man jedoch eines nicht vergessen: Die Intelligenz eines Menschen ist viel zu komplex, um sie in einem IQ-Test hinreichend erfassen zu können. Denn ein solcher Test zielt in erster Linie auf die abstrakt-logischen, räumlich-visuellen und sprachlichen Fähigkeiten eines Menschen, die überdies in einer mehr oder weniger standardisierten Form abgefragt werden. Das verlangt nicht zwangsläufig Kreativität, deren Potenzial gerade darin liegt, von allgemein anerkannten Lösungswegen abzuweichen. Und so kommt es, dass kreative Menschen nicht immer einen hohen IQ haben, und Menschen mit hohem IQ nicht immer durch besondere Kreativität auffallen.

Aber selbst die vom IQ-Test erfassten Fähigkeiten sind erstaunlich variabel, wie der jetzt umfassend bestätigte Flynn-Effekt zeigt. Zwar wird über dessen Ursachen in der Wissenschaft nach wie vor kontrovers diskutiert. Dennoch lässt sich aus dieser Debatte schon heute eine wichtige Erkenntnis ableiten: Neben einer qualifizierten Schulbildung tragen auch andere und häufig unterschätzte Umwelteinflüsse wie der Computer oder das Internet dazu bei, unsere Wahrnehmung und unser Denken nachhaltig zu beeinflussen.

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