Was wäre, wenn

René Pollesch und Fabian Hinrichs bescheren der Volksbühne eine Nicht-Liebes-Ballade

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Unsicherheit darüber, die optimale Wahl getroffen zu haben, und der Druck, in allen Belangen das Beste herauszuholen, stehen im Mittelpunkt des Abends. Fabian Hinrichs rast wie besessen über den Selbstbefragungsparcours.

René Pollesch wird Archäologe. Eigentlich war es ja das Thema der mehr oder weniger wohlbehüteten Teens und Twens der 90er Jahre - auf alle Fälle noch vor Verabschiedung der Schröder-Fischerschen Hartz-Gesetze: sich nicht recht entscheiden zu können, auf welche Party sie gehen, in welchen Lebensabschnittsbegleitungszusammenhang sie für welche Dauer eintreten und an welches Projekt sie sich binden sollten. Aber die Unsicherheit darüber, die optimale Wahl getroffen zu haben, und vor allem der Druck, in allen Belangen das Maximum herauszuholen, nimmt in unseren kapitalistischen Ausbeutungs- und Selbstausbeutungszusammenhängen eben derart zu, dass so ein altes Thema anderthalb Dekaden nach der Jahrtausendwende doch wieder seine Bearbeitungsberechtigung hat. In der Volksbühne heißt das Ergebnis: »Keiner findet sich schön«.

Nachdem sich das erste Erstaunen darüber gelegt hat, folgt man Fabian Hinrichs, der nach längerer Pause mal wieder einen Pollesch-Text als Solist in den Mund nimmt, sehr gern durch die zunächst recht banalen, durch Vor- und Zurückspulen der Folgehandlungen aber immer verzwickter werdenden Entscheidungskaskaden. Seine Figur will natürlich eines: Geliebt und geschätzt, gemocht und vergöttert, vor allem aber als ein Selbst wahrgenommen und nicht als ein Vehikel zum Kurzzeitvergnügen von anderen benutzt werden. Und so putzt der Held sich heraus, probiert selbst Rock und Abendrobe, betrachtet sich prüfend im Spiegel, sieht das ausfallende Haar, mustert die im Fitnessstudio gestählte Muskulatur und stellt schließlich fest: Passt alles.

Dann aber, und dies ist eine der vielen schönen Volten an diesem Pollesch-Hinrichs-Abend, bleibt der Protagonist schließlich doch zu Hause. Und er geht mit mathematisch anmutender Präzision den Folgen dieser Entscheidung nach - und den Ereignissen, die er dadurch verpasst. Denn wäre er doch ausgegangen, dann hätte er ein Iggy-Pop-Konzert besucht - und dort beim Stagediving des Altmeisters erlebt, wie die umstehenden Konzertbesucher die Smartphones weggelegt hätten, um Flying Iggy aufzufangen. Andererseits hätten sie sich vielleicht aber auch nicht von ihren »Ich war auch hier«-Aufzeichnungs- und Selbstvergewisserungsgeräten trennen können und lieber den Aufprall des Sängers auf dem Boden dokumentiert.

In diesem Fall hätte dieser Profan-Nachfahre von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« allerdings nicht die 20-Jährige kennengelernt, die mit ihm die ersten Worte nur deshalb wechselte, weil sie ihn bat, ihr Smartphone zu halten, um selbst den fallenden Iggy aufzufangen. Das hätte der Beginn einer neuen, vielleicht sogar drei Monate währenden Beziehung sein können.

Wäre die sich selbst befragende Figur Hinrichs’ allerdings zu Hause geblieben und hätte auch noch die Klingel gehört, dann hätte sie eine alte Liebe hineingelassen, die entweder nach zwei Stunden nüchtern gegangen oder doch wenigstens bis 5 Uhr früh geblieben wäre. Hätte unser Held aber just zum Klingelzeitpunkt die Wohnung zum Zigarettenholen verlassen, hätte er die Klingelnde nicht bemerkt und sein Abend wäre einsam im »Robocop«-Gucken versandet.

All diese Eventualitäten breitet Hinrichs nicht nur minuziös aus. Er füllt sie geradezu besessen mit den Gefühlen, die ihn dann durchströmt hätten. Er lässt die Zeit Schleifen drehen und wechselt beim Wiederholungstrip Haltungen und Emotionen. Pollesch hat ihm einen prächtigen Parcours für diese Selbstbefragungsrallye gebaut. Und Hinrichs nutzt jede Haarnadelkurve und jede Gerade für ein Manöver.

Mit ausgreifenden Schritten zeichnet er Kreise und Schlaufen auf die Bühne. Seine Stimme bedient sich liturgischer Formen. Sie kippt ins hohe Register, sie stürzt ab, sie fällt in einen Singsang, der von Ferne an den der Griots, der Legendenerzähler Westafrikas, erinnert. Er reagiert auch schnell auf Zuschauer. Als ein röchelndes, Hospizatmosphäre mittransportierendes Husten genau beim Stichwort »alte Männer« ertönt, verstummt er und lässt dem Geräusch jenem Raum, der ausreicht, ein großes Allverstehen zwischen sich, dem Auditorium, und, so ist man überzeugt, auch dem Hustenden, zu erzeugen.

Um ihn herum tanzt zeitweilig ein in Sternenkostüme gekleidetes Cheerleaderteam, das mal wie eine Schrumpfform des Firmaments wirkt und mal die Verkörperung des US-amerikanischen Sternenbanners ist, der Konsumikone schlechthin.

Pollesch hat Hinrichs eine Ballade über die Unmöglichkeit der Liebe in unseren Zeiten in den Mund gelegt. Und Hinrichs nimmt sie sich, schmeckt sie ab, geht auf Distanz zu ihr, lächelt dabei über sie oder auch über sich selbst und verschmilzt schließlich mit ihr. Denkendes Theater zu einem großen kleinen Thema wird geboten. Eine gute Stunde lang dieses Mal nur. Aber immerhin darf man hinterher konstatieren, dass man eine gute Entscheidung getroffen hat, an diesem Abend in dieses Theater zu gehen. Man kommt nicht einmal dazu, an ein alternatives Optimum, irgendwo, mit irgendwem, zu denken. Man ist einmal richtig im Hier, also dort, in der Volksbühne, die auf Geheiß profilsüchtiger Kulturpolitiker bald ganz anders, mutmaßlich hochoptimiert und dabei hoffentlich nicht völlig geistfrei sein wird.

Nächste Vorstellungen: 1. und 8. Juli

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