Die Vorkämpfer

Mit dem quasi politischen Streik an der Berliner Charité schreiben die Beschäftigten Geschichte

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 6 Min.
Wenn es ein Ende des Sparzwangs an Krankenhäusern geben sollte, könnten die Beschäftigten der Berliner Charité darin kräftig mitgewirkt haben. Sie gehen in die zweite Streikwoche.

Langweilig wird es im Streiklokal am Standort Mitte der Berliner Charité nicht. Für jeden Tag des seit dem 22. Juni andauernden Ausstandes haben sich die Streikenden ein sportliches Programm vorgenommen. Streikversammlung um 8.30 Uhr, Tarifberatertreffen, »Streikuni«, über die Stationen laufen, Plakate aufhängen, mit Patienten reden, Flugblätter an Bürger verteilen, Streiklieder singen, wieder Streikversammlung. Kollegen kommen und gehen, ab und zu lässt sich ein Arzt blicken und wechselt ein paar Worte mit den Anwesenden. Unterstützer des Streiks vom Bündnis »Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus« sind von morgens um sechs an dabei und helfen mit bei allem, was so anfällt.

Auch wenn längst nicht der gesamte Betrieb an Europas größtem Uniklinikum stillsteht, so spürt man doch deutlich auf dem Campus, dass hier die Luft brennt. Die Charité ist Vorreiterin bei medizinischer Forschung und Lehre, hier werden neue Verfahren und Therapien entwickelt und unter anderem besonders komplizierte Fälle behandelt. Seit einigen Jahren ist sie aber auch Vorreiterin in Sachen gewerkschaftlicher Organisation und Artikulation. Die aktuelle Auseinandersetzung wird überall im Land mit Spannung verfolgt, denn das erste Mal in der Geschichte streiken Beschäftigte eines deutschen Krankenhauses für mehr Personal.

Mit ihrem Kampagnenslogan »Mehr von uns ist besser für alle« ist ver.di ein regelrechter PR-Coup gelungen. Griffiger könnte man kaum ausdrücken, worum es bei dieser Auseinandersetzung geht: um bessere Gesundheitsversorgung und gute Arbeitsbedingungen für alle, denn - so die Botschaft an die Öffentlichkeit - jeder ist potenzieller Patient. Dass die ver.di-Betriebsgruppe der Charité dies immer betont hat und auch während des Streiks stets ihren Slogan selbstbewusst und stolz vor sich herträgt, ist sicherlich ein Grund dafür, dass es bisher sehr viel Verständnis gibt für das Anliegen. Von Presse, Patienten, Beschäftigten anderer Betriebe. Auf der gemeinsamen Demonstration aller drei Standorte am 23. Juni gab es Grußworte von H&M-Verkäuferinnen und Krankenschwestern des Uniklinikums Göttingen. Kollegen von Post und Amazon demonstrierten mit. IG-BAU-Mitglieder schwenkten Fahnen aus den Fenstern, als die Demonstration an einem Gebäude vorbeizog, in dem die Gewerkschaft ein Büro hat. Kurz darauf, als die 1500 Menschen durchs Regierungsviertel zogen, stand die Linksfraktion des Bundestages mit Transparenten auf den Balkonen ihrer Büros und skandierte unter großem Applaus »Mehr von euch ist besser für alle«.

Am Dienstag veröffentlichte auch der Landesvorstand Berlin-Brandenburg der Ärztegewerkschaft Marburger Bund eine Stellungnahme, in der er erklärt, die Forderungen von ver.di für mehr Personal vollumfänglich zu unterstützen. Allen Grußworten und Solidaritätsschreiben ist eines gemein: Sie erkennen an, dass der Kampf für die personelle Mindestbesetzung an der Charité zwar von, aber nicht nur für die Beschäftigten der Charité geführt wird, dass er Vorbildcharakter hat. Denn wenn es hier einen Erfolg geben sollte, dann wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit wie ein Dammbruch wirken, wie ein Signal für andere Krankenhäuser, andere Bereiche, andere Branchen. Die Auseinandersetzung setzt da an, wo der Schuh für viele Beschäftigte in Deutschland, nicht nur an der Charité, besonders drückt. Bei den Arbeitsbedingungen, die durch Unterbesetzung und Personalabbau bei gleichzeitig steigenden Anforderungen oft von Hetze, Stress und der Angst, einen Fehler zu begehen, geprägt sind. Die Möglichkeit eines Dominoeffektes sieht auch die Arbeitgeberseite. Daher geht es auch aus Sicht der Klinikbetreiber und Kommunen um viel. Leicht ist hier nichts zu gewinnen.

Eine Botschaft geht aber schon jetzt von dem Streik an der Charité aus - unabhängig davon, was am Ende herauskommt. Sie sagt: Auch für eine Forderung wie die personelle Mindestbesetzung kann gestreikt werden. Eine Einschätzung, die inzwischen auch von zwei Instanzen arbeitsgerichtlich bestätigt wurde. In einem Land wie Deutschland, das eines der eingeschränktesten Streikgesetze Europas hat und in dem sich die wenigen Arbeitskämpfe der vergangenen zwei Jahrzehnte fast ausnahmslos um Lohn, Arbeitszeit oder die Abwehr von Stellenabbau gedreht haben, ist eine solche Botschaft nicht weniger als bahnbrechend.

Aufgekommen war die Frage der Personalbemessung an der Charité bereits vor Jahren. Im Frühjahr 2011 hatte ver.di noch für 300 Euro mehr für alle gestreikt. Nach sechstägigem Arbeitskampf gab es damals eine Einigung, einen Teilerfolg. In der darauffolgenden Zeit wurde immer klarer, dass die Unterbesetzung aus Sicht der meisten Kollegen das dringendste Problem darstellt. Ein Konzept wurde entwickelt, die Forderung »keine Nacht allein, fünf Patienten pro Pflegekraft« aufgestellt, verhandelt und verhandelt. 2014 einigten sich ver.di und Charité darauf, bis zum Jahresende 80 neue Stellen zu schaffen und dann zu bilanzieren. Aus Sicht von ver.di fällt diese Bilanz vernichtend aus. Die 80 Neubesetzungen hätten quasi keinen Effekt, da sie durch Abgänge und Mehrarbeit kompensiert würden. Zu Beginn des Jahres hatte sich für die Beschäftigten an der Charité nichts geändert, die nächste Eskalationsstufe war dann ein zweitägiger Warnstreik im April. Der Arbeitgeber Charité sagt noch immer, die Personalbemessung sei nicht tariffähig. Ver.di hingegen argumentiert, eine gesetzliche Regelung zur Mindestbesetzung tue zwar not, dies stehe jedoch keineswegs im Widerspruch dazu, diese auch tariflich zu regeln. Schließlich sei eine politische Lösung noch gar nicht in Sicht. Es stimmt also: Ver.di führt einen Streik für eine sehr politische Forderung, eine, die auch auf politischer Ebene gelöst werden könnte, und in diesem Sinne führt ver.di einen sehr politischen Streik, auch wenn er es seiner Form nach nicht ist und nicht sein darf. Diese Tatsache macht den Streik zu einem historischen.

Vieles hat dazu beigetragen, dass dies an der Charité geschieht. Vor allem die Stärke von ver.di im Haus, die »300 Jahre - 300 Euro«-Kampagne vor vier Jahren, jahrelanges Engagement von Einzelnen wie zum Beispiel den Betriebsgruppenvorständlern und Tarifkommissionsmitgliedern Carsten Becker und Dana Lützkendorf, die Unterstützung durch die ver.di-Hauptamtlichen Kalle Kunkel und Meike Jäger, die Gründung des Solidaritätsbündnisses 2013.

Vieles aber spricht auch dafür, dass solche Streiks nicht die Ausnahme bleiben werden in den kommenden Jahren. Ohnehin gibt das Rekordstreikjahr 2015 Anlass zur Annahme, dass mit dem Streik, der jahrelang als Werkzeug demokratischer Teilhabe als überholt galt, ein Klassiker zurück auf der großen Leinwand ist. Dies wiederum liegt in einer sehr einfachen Wahrheit begründet: Kein anderes legales Mittel verschafft Arbeitnehmern so viel Aufmerksamkeit und Druckpotenzial wie der Ausstand, denn er tut weh. Er trifft Unternehmer und Konsumenten, Patienten, Eltern und Reisende. Kein Flashmob, keine Facebook-Gruppe und keine Onlinepetition können da mithalten. Gleichzeitig geht es auch in den anderen Bereichen, in denen derzeit gestreikt wird - bei Post, Amazon, Sozial- und Erziehungsdiensten oder Lokführern -, um viel mehr als nur tarifliche Lohnerhöhungen.

Die Beschäftigten der Charité üben einmal mehr eine Vorreiterrolle aus. Dessen sind sie sich durchaus bewusst, und sie möchten, dass andere ihrem Vorbild folgen. So hat der Slogan »Mehr von uns ist besser für alle« einen doppelten Sinn. Mehr von uns Gesundheitsarbeitern ist besser für alle, weil die Versorgung nachhaltig verbessert wird. Aber auch: Mehr Aktive, mehr Streikende, die unserem Vorbild folgen, sind besser, denn ohne Druck der Beschäftigten wird es die Personalbemessung nicht geben, weder tariflich noch gesetzlich.

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