Die Epidemie der Brillenträger

Kurzsichtigkeit nimmt weltweit zu. Über die Gründe wird gerätselt - unter Verdacht steht besonders der Mangel an Sonnenlicht. Computerspiele bremsen womöglich

  • Frank Ufen
  • Lesedauer: 6 Min.

Fast überall auf der Welt steigt die Zahl derjenigen unaufhörlich, die sich mit kurzsichtigen Augen durchs Leben schlagen müssen - und das in einem Tempo und Ausmaß, dass genetische Mutationen daran nicht schuld sein können. Zumal es auch Ausnahmen gibt: Australien und Dänemark etwa.

Der Augenheilkundler Frank Schaeffel vom Universitätsklinikum Tübingen schätzt, dass sich das Heer der Kurzsichtigen in den skandinavischen Ländern zwischen 1968 und 2000 nahezu verdreifacht hat. Dort seien heute etwa 35 Prozent der Studentinnen und Studenten kurzsichtig, in Großbritannien sogar über 50 Prozent. Solche Zahlen können jedoch in Ostasien niemanden mehr schockieren. In Taiwan sind mittlerweile 60 Prozent der 11- bis 13-Jährigen kurzsichtig, vor 30 Jahren waren es bloß 20 Prozent. Und in Südkorea wurde bei unglaublichen 96,5 Prozent der für den Wehrdienst gemusterten Männer Kurzsichtigkeit festgestellt.

Merkwürdig ist allerdings, dass Kinder vom Land wesentlich seltener unter Kurzsichtigkeit leiden als Stadtkinder. So sind in den ländlichen Regionen Chinas ungefähr 20 Prozent der Bevölkerung kurzsichtig, während es in der Metropole Hongkong nicht weniger als 80 Prozent sind. Noch etwas ist merkwürdig: Es gibt mehr kurzsichtige Frauen als kurzsichtige Männer, und es gibt mehr weitsichtige Männer als weitsichtige Frauen.

Die britischen Psychologen Helen Stancey und Mark Turner vom Hammersmith and West London College fanden etwas Erstaunliches. In einem Experiment wurden weibliche und männliche Versuchspersonen mit Linien auf einem Blatt Papier konfrontiert, auf deren Mitte sie mit einem Laser zeigen sollten. Hierbei trat ein auffälliger Unterschied zutage. Die Frauen schnitten bei einem Abstand von 50 Zentimetern am besten ab, die Männer hingegen bei einer Entfernung von 100 Zentimetern. Nach Stancey ist dieses Leistungsgefälle darauf zurückzuführen, dass Frauen Daten über nahe und ferne Objekte in anderen Gehirnarealen verarbeiten als Männer. Stancey glaubt, dass es sich hierbei um ein Erbe des steinzeitlichen Lebens handeln könnte. Damals seien Frauen als Sammlerinnen auf die Wahrnehmung des unmittelbar vor ihren Augen Liegenden spezialisiert gewesen, Männer hingegen als Jäger auf das Spähen in die Ferne.

Schon seit einiger Zeit ist bekannt, dass Kinder umso weniger dem Risiko ausgesetzt sind, kurzsichtig zu werden, je mehr Zeit sie im Freien verbringen. Man vermutet, dass die Helligkeit des Tageslichts - an einem sonnigen Tag kann die Lichtstärke ohne weiteres 30 000 bis 40 000 Lux betragen - hierbei eine Schlüsselrolle spielt. Durch helles Licht wird in der Netzhaut die Produktion des Botenstoffs Dopamin angekurbelt, der das Wachstum des Augapfels hemmt. Immerhin macht jeder Millimeter Überlänge das Auge um etwa 2,7 Dioptrien kurzsichtiger.

Unlängst haben zwei Mitarbeiter Schaeffels - Regan Ashby und Arne Ohlendorf - Experimente mit Hühnerküken durchgeführt. Diesen Küken wurden Mattbrillen verpasst, die ein nahes Sehen vortäuschen. Jeden Tag wurde den Tieren 15 Minuten die Brille abgenommen. Während dieser Viertelstunde kam die Hälfte der Küken an die Sonne. Die anderen Küken blieben im Labor, wo sie künstlichem Licht mit einer Stärke von 500 Lux ausgesetzt waren.

Das eindeutige Ergebnis: Bei den Küken, die bei Kunstlicht aufwuchsen, wurde doppelt so häufig Kurzsichtigkeit diagnostiziert wie bei denjenigen, die täglich eine Dosis Sonnenlicht erhielten. In weiteren Versuchen wurden Scheinwerfer mit einer Beleuchtungsstärke von 15 000 Lux eingesetzt. Die enorme Helligkeit, die mit ihnen erzeugt wurde, wirkte sich auf die Augen der Hühner ähnlich positiv aus wie das Sonnenlicht.

In einem Übersichtsartikel des Fachjournals »Nature« kam der Wissenschaftsjournalist Elie Dolgin zu dem Schluss, dass Kurzsichtigkeit tatsächlich in erster Linie durch einen Mangel an Tageslicht hervorgerufen wird. Dolgin ist der Auffassung, dass Kinder allein dadurch vor Kurzsichtigkeit bewahrt werden können, dass sie täglich drei Stunden lang dem Sonnenlicht ausgesetzt sind.

Schon 652 vor unserer Zeitrechnung - zur Zeit der Tang-Dynastie - wurde in China gemutmaßt, dass das Lesen bei schummerigem Licht kurzsichtig machen könnte. Ganz so einfach ist die Sache leider nicht. »Viele epidemiologische Studien zeigen«, erklärt Schaeffel, »dass Lesen und Computerarbeit zwar mit Kurzsichtigkeit zusammenhängen, aber nicht so direkt, wie man vielleicht erwarten würde. Der Faktor ›Naharbeit‹ erklärt nur einige Prozent der Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden.«

Doch eines ist laut Schaeffel, der in diesem Zusammenhang auf die australische Studie »Role of Near Work in Myopia: Findings in a Sample of Australian School Children« (2008) verweist, ziemlich sicher: Kinder laufen desto mehr Gefahr, kurzsichtig zu werden, je länger und intensiver sie aus extrem kurzem Abstand (weniger als 30 Zentimeter) lesen. Warum das der Fall ist, ist allerdings nach wie vor ungeklärt.

Es gibt die plausibel klingende Hypothese, dass sich das Auge bei sehr geringem Leseabstand so einstellen muss, dass der Brennpunkt knapp hinter der Netzhaut liegt - weshalb es dann versucht, diese Verschiebung auszugleichen, in dem es in die Länge wächst. Experimente mit Hühnern, Meerschweinchen und zwei Affenarten schienen diese Hypothese zunächst zu bestätigen. Doch die Befunde einer Langzeitstudie an Kindern stellen sie in Frage. Außerdem hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Netzhaut die Ebene der höchsten Sehschärfe selbst bestimmt und das Längenwachstum des Augapfels selbst reguliert. Wenn man Hühnern Linsen aufsetzt, die in der Mitte ein Loch aufweisen, wachsen ihre Augen in der Mitte normal, in der Peripherie hingegen werden sie kurz- oder weitsichtig. »Leider«, konstatiert Schaeffel, »gibt es derzeit keine gute Hypothese, wie und warum Lesen und Kurzsichtigkeit zusammenhängen.«

Unlängst hat Daphne Bavelier - eine amerikanische Hirnforscherin von der Universität von Rochester - zwei Gruppen von Studenten innerhalb von neun Wochen 50 Stunden lang Computerspiele spielen lassen. Die eine Gruppe bekam es mit schnellen Spielen wie »Call of Duty 2« oder »Unreal Tournament 2004« zu tun, die andere Gruppe mit dem farben- und kontrastreichen, aber gemächlichen Spiel »Sims 2«. Das Experiment ging mit einer Überraschung aus: Ausgerechnet die Probanden, die ihre Augen wochenlang mit Ego-Shooter-Spielen malträtiert hatten, konnten ihre Fähigkeit zum Kontrastsehen um 50 Prozent verbessern. »Wenn man Actionspiele spielt«, sagt Daphne Bavelier, »verändert sich der Wahrnehmungsweg im Gehirn, über den visuelle Informationen verarbeitet werden. Diese Spiele bringen das visuelle System des Menschen an seine Grenzen, und das Gehirn stellt sich darauf ein.«

Kann man verhindern, dass Kurzsichtigkeit überhaupt entsteht, oder kann man zumindest erreichen, dass sie sich nicht weiter verschlimmert? Im Prinzip ja.

Die Brillen und Kontaktlinsen, die man gegenwärtig zur Korrektur von Kurzsichtigkeit verwendet, sind nicht gerade optimal. Sie machen nämlich oft genug das kurzsichtige Auge an seiner Peripherie weitsichtig. Doch neuerdings gibt es spezielle Linsen, die so geschliffen sind, dass sie in der peripheren Netzhaut Kurzsichtigkeit erzeugen. Solche oder ähnliche Speziallinsen dürften eine große Zukunft vor sich haben. »Eine amerikanische Untersuchung (COMET: Correction of Myopia Evaluation Trial) zeigte, dass diese Brillen die Myopieentwicklung um bis zu 60 Prozent verlangsamen können«, sagt Frank Schaeffel.

In China und Taiwan wird heute jedes dritte kurzsichtige Kind mit Atropin behandelt. Dieser Wirkstoff hemmt zwar tatsächlich das Längenwachstum des Augapfels, hat aber schwerwiegende Nebenwirkungen: Er lähmt die Akkommodation - die Anpassung der Augenlinse an wechselnd entfernte Objekte - und erweitert die Pupille dermaßen, dass das Auge leicht geblendet wird. Außerdem muss das Atropin regelmäßig verabreicht werden. Wird es abgesetzt, fängt das Auge sofort wieder an zu wachsen.

Sollte es aber gelingen, diese Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen, würde man Kurzsichtigkeit im Handumdrehen kurieren können - mit Augentropfen.

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