»Ehe man an die nötige Tat herangeht«

SYRIZA-Debatte: Kein Strategiewechsel ohne Truppen-Reorganisation. Zum Verhältnis von Handeln und Denken nicht nur in Griechenland

  • Detlef Georgia Schulze
  • Lesedauer: 13 Min.

Am Donnertag stellten Janine Wissler und Nicole Gohlke in ihrem wichtigen Debattenbei­trag ihre »Grexit-Frage(n)«. Wichtig ist ihr Debattenbeitrag, weil sie weder in Rechtfertigung der aktuellen Politik der griechischen Regierung, der Mehrheit der SYRIZA-Fraktion im griechischen Parlament und der Minderheit des SYRIZA-Zentralkomitees noch in Verrats-Geschrei verfallen.

Vor den entscheidenden Fragen schrecken aber auch diese beiden Autorinnen zurück: 1. Welche tragfähigen Alternativen gibt es zu den gemachten und von den Autorinnen tref­fend analysierten Fehlern? Und 2.: Lassen sich die alternativen Wege, die vielleicht vor ei­nem halben Jahr oder eher noch vor Beginn des vorhergehenden Wahlkampfes in Grie­chenland hätten begonnen werden können, jetzt im Moment, wo das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, gehen? Oder bedarf es 3. vielmehr erst einmal einer Reorgani­sation der SYRIZA-Truppen, um einen alternativen Weg mit einigermaßen Erfolgsaussich­ten gehen zu können?

Wir wissen mittlerweile, mit welcher Naivität der Tsipras-Flügel von SYRIZA, aber auch Varoufakis in die Verhandlungen mit der Troika hineingegangen ist. Stathis Kouvelakis be­richtet in seinem langen »Der Kampf geht weiter«-Gespräch im linken us-amerikanischen »Jaco­binmag« über ein Interview das der Varoufakis-Nachfolger, Euclid Tsakalotos, der französi­schen Website Mediapart im dem April gab: »Als er nach seinem bisher größten Aha-Moment seit der Regierungsübernahme gefragt wurde, antwortete er damit, dass er sich als Akademiker, dessen Job es sei, Volkswirtschaft an der Universität zu lehren, natürlich gewissenhaft auf die Verhandlungen in Brüssel vorbereitet hätte. Er hätte ein ganzes Arse­nal an Argumenten vorbereitet und erwartete ebenso fundierte Gegenargumente. Was er aber stattdessen erlebt habe, war, Leuten gegenüberzustehen, die ohne Unterlass Regeln, Abläufe und so weiter herunterleierten. Tsakalotos sagte, er sei enttäuscht gewesen vom niedrigen Niveau der Diskussion.«

Und Varoufakis sagte in seinem »New Statesman«-Interview, das das »neues deutschland« in deutscher Über­setzung veröffentlicht hat: »Es ist eher so, dass es eine vollständige Verweigerung gab, sich auf ökonomische Argumentationen einzulassen. Unverblümt. Sie stellen ein Argument vor, an dem Sie wirklich analytisch gearbeitet haben – um sicher zu gehen, dass es lo­gisch kohärent ist – und dann schauen Sie lediglich in leere Gesichter. Sie hätten genau so gut die schwedische Nationalhymne singen können – Sie hätten dieselbe Antwort be­kommen. Und für jemanden, der akademische Debatten gewöhnt ist, ist das ist erschre­ckend.«

Abgesehen davon, daß auch bei akademischen Konferenzen nicht immer nur der von Jür­gen Habermas postulierte »zwangslose Zwang des besseren Arguments« herrscht, son­dern Michel Foucault mit seiner Analyse der Verknüpfung von Diskus und Macht auch in akademischen Kontexten jedenfalls Realismus nicht abgesprochen werden kann, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, daß Leute, die schon einige Zeit politisch aktiv oder zumin­dest in öffentlichen politischen Debatten einbezogen sind, meinen, sie könnten nun ausge­rechnet bei IWF, EZB und EU-Kommission mit dem besseren oder vermeintlich besseren Argument punkten.

Politik ist doch nicht in erster Linie ein Streit über Wahrheit (auch wenn manchmal strittig ist, ob diese oder jene Maßnahme einem bestimmten Interesse besser dient), sondern in erster Linie ein Streit über unterschiedliche Interessen – im vorliegenden Fall ein Streit darüber, wer die Lasten der kapitalistischen Krise seit 2007 tragen soll und ob sie im Sinne des Kapitals oder im Sinne der Lohnabhängigen gelöst werden kann/soll. In diesem Streit mögen auch heutzutage Kompromisse denkbar sein, aber sie kommen si­cherlich nicht durch die Kraft des ‚besseren Arguments’ zustande.

Aber leider ist die SYRIZA-Linke nicht (viel) realistischer als der Regierungsflügel; viel­leicht ist sie sogar noch unrealistischer: Während der Regierungsflügel der machtpoliti­schen Realität sich unterwerfend Rechnung trägt, ignoriert der linke Flügel sie einfach und schreibt und publiziert irgendwelche Wunschzettel:

»1. radikale Reorganisation des Bankenwesens, seine Nationalisierung unter gesellschaft­licher Kontrolle sowie eine Neuausrichtung auf Wachstumsziele;

2. völlige Zurückweisung von Einsparungshaushalten […], um gesellschaftliche Bedürfnis­se zu stillen, den Sozialstaat wiederaufzubauen und zu versuchen, die Wirtschaft aus dem unsäglichen Kreislauf der Rezession herauszuholen«.

Und im Anschluß daran wird mit dem Gestus der Gewissheit postuliert: »Es gibt absolut machbare Alternativen (engl. Fassung: absolutely manageable choices), die in die Rich­tung eines neuen ökonomischen Modells weisen, das sich an Produktion, Wachstum und einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der arbeitenden Menschen und der Armen orientiert.«

Hier wird zwar von »Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse« (engl.: change in the social balance of forces) gesprochen, aber wie diese Veränderung erfolgen soll; daß es dafür eines Kampfes bedarf und wer ihn wie gegen wen führen müßte – das alles kommt in dem Text nicht vor! Alles scheint darauf reduziert zu sein, eine »machbare Alter­native« zu wählen; alles scheint ein bloßes Management-Problem, das AkademikerInnen lösen könnten, wenn auf ihre Modelle gehört würde, zu sein.

Da gibt es also einen linken SYRIZA-Flügel, der links von einem Finanzminister steht, der seinerseits beansprucht, ein »strammer Marxist« (Kouvelakis über Tsakalotos) zu sein – und das, was nach Marx und Engels die Geschichte ausmacht, nämlich eine Geschichte von Klassenkämpfen zu sein, kommt in dem ganzen Text nicht vor. – Und damit, das Wort »Klassenkämpfe« in den Mund zu nehmen oder aus der Feder zu lassen, ist noch nicht ein­mal etwas dazu ausgesagt, ob sie auf revolutionäre oder reformistische Weise geführt werden...

Der Artikel von Janine Wissler und Nicole Gohlke ist auch deshalb wichtig, weil sie auf ge­wisse Distanz zu dem Wunschzettel der SYRIZA-Linken bleiben: »Ein selbstbestimmter Grexit von links ist sicherlich keine einfache Lösung. Gerade die ökonomischen Folgen sind unter linken Ökonomen und WissenschaftlerInnen sehr umstritten und erscheinen derzeit kaum absehbar. Zumindest kurzfristig könnte der Grexit mit schweren sozialen Ver­werfungen, ökonomischen Abstürzen und weiterer Verelendung verbunden sein.« »Wie könnte unser Plan B aber überhaupt gedacht werden? Uns scheint dies ein sehr schwieri­ges Unterfangen zu sein, das bislang mehr Fragen als Antworten aufwirft. Trotz vieler le­senswerter Beiträge, gerade aus der griechischen Linken, liegt noch kein detailliertes Sze­nario vor. Seine Attraktivität bezieht der linke Grexit aber vor allem aus der Alternative zu ihm: Ein Verbleib in der Eurozone bedeutet für Griechenland die Garantie auf weitere Kür­zungen und Verelendung, die faktische Aufgabe demokratischer und parlamentarischer Kompetenzen und stellt SYRIZA vor eine Zerreißprobe.«

Ich stimme dieser Distanz zu, aber ich stimme auch der trotzdem durchscheinend Sympa­thie zu: Wenn es einen halbwegs detaillierten ‚Plan B’ gäbe, wäre es einen Versuch Wert, ihn durch durchzusetzen.

Und genau an dieser Stelle fängt auch die große Leerstelle des Artikels von Janine Wiss­ler und Nicole Gohlke an; sie schreiben zwar: »Letztlich hat es ... die Linke in Europa ver­säumt, ernsthafte Überlegungen für einen Plan B zu entwickeln.« Ja, aber was heißt das denn? – jetzt, nachdem die SYRIZA-Regierung ein halbes Jahr im Amt ist; nachdem Tsi­pras die Brüsseler Vereinbarung unterschrieben hat; nachdem das griechische Parlament die ersten beiden geforderten Gesetzespakete verabschiedet hat – und nachdem dieser Plan B (der im übrigen vielleicht schon immer hätte der »Plan A« sein sollen) nicht existiert?

Können sich jetzt einfach ein paar »linken Ökonomen« zusammensetzen und diesen »Plan« schreiben, dann Tsipras durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« über­zeugen, That there is an alternative – und dann ändert die griechische Regierung inner­halb von wenigen Wochen ein zweites Mal ihren Kurs um 180 Grad und die Lohnabhängigen in Griechenland werden begeistert sein?

Es gibt doch mindestens einen Punkt, an dem Varoufakis hundertprozentig Recht hat: »Es ist die eine Sache, das [einen Plan für einen Grexit auszuarbeiten] mit vier oder fünf Leu­ten zu machen, es ist etwas ganz anderes, ein Land darauf vorzubereiten.«

Aber kommen wir zurück zu den Lohnabhängigen in Griechenland. Janine Wissler und Ni­cole Gohlke schreiben, zwar sei »richtig, dass bei Umfragen nach einem Verbleib im Euro losgelöst von den damit real verbundenen Kürzungsprogrammen die Mehrheit der Grie­chInnen ‚Ja’ zum Euro sagt. Was aber, wenn man bei der Frage genau diesen zentralen Zusammenhang herstellt?«

Ja! Was ist dann? Gibt es irgendwelche Anzeichen, daß dann die Antwort »Nein« wäre? Die Demonstrationen an diesem und am vergangenen Mittwoch vor dem Parlament waren sehr viel kleiner als frühere Demonstrationen aus ähnlichen Anlässen; auch die Beteili­gung nach dem Streik im Öffentlichen Dienst war nach Einschätzung von Stathis Kouvela­kis, einem Vertreter des linken SYRIZA-Flügels, eher mäßig. Gibt es Betriebsbesetzun­gen? Werden, wie vor einiger Zeit, Behörden besetzt? Wird auch nur ein Camp auf dem Syntagma-Platz errichtet? Nein, alles: nein!

Diejenigen, die noch etwas links vom linken SYRIZA-Flügel stehen und eher außerparla­mentarisch orientiert sind, könnten noch die These vorbringen, erst der SYRIZA-Wahler­folg, habe die Hoffnungen auf’s Parlament kanalisiert. Aber auch das ist ja nicht zutreffend; vielmehr war die gesellschaftliche Mobilisierung schon lange vorher abgeflaut. Viel eher ist also zutreffend, was Thomas Sablowski in der »Jungen Welt« schrieb: »Die Hoffnung auf die Wahlen und einen Sieg der oppositionellen Kräfte war sozusagen der letzte Strohhalm, an den sich die Massen klammern konnten.«

Janine Wissler und Nicole Gohlke schreiben trotzdem: »Auch wenn Alexis Tsipras betont hat, das Referendum sei nicht unmittelbar eine Abstimmung um die Frage der Währung gewesen: Für die meisten GriechInnen war es eine klare Wahl zwischen dem Verbleib im Euro bei fortgesetzter Austerität einerseits, und einer unmissverständlichen Ablehnung des Angebotes der ‚Institutionen’ – die Gefahr eines Grexits in Kauf nehmend – andererseits«.

»Für die meisten GriechInnen war es eine klare Wahl zwischen...« – woher wissen die bei­den Autorinnen das? Sowohl Tsipras als auch Varoufakis hatten vor der Abstimmung er­klärt, daß es binnen 48 Stunden nach der Abstimmung eine Einigung mit den ‚drei Institu­tionen’ geben werde. Es dauerte dann zwar etwas länger, aber nichts deutet darauf hin, daß kampfbereite Teile der griechischen Gesellschaft bedauern, daß es am Ende eine ‚Unterwerfungs-Einigung’ gab. – Auf den Straßen und in den Betrieben in Griechenland deutet wenig darauf hin, daß Umfrageergebnisse, die aussagen, daß Tsipras’ Beliebtheit in letzterer Zeit noch gestiegen sei, unzutreffend sind.

Aber kommen wir zurück, zu dem, was getan werden könnte: Janine Wissler und Nicole Gohlke schreiben in ihrem Debattenbeitrag: »Immerhin könnte aber auch – und wir meinen, diese Optionen sind es zumindest wert, einmal ernsthaft gedacht zu werden – ein neuer politischer Handlungsspielraum entstehen: mit einer selbst gesteuerten Kreditvergabe, eigenen Maßnahmen gegen Kapitalflucht und zur Besteuerung der Reichen ohne Mitsprache durch die Troika.«

Nachgedacht werden sollte darüber in der Tat! Aber ungefähr vor 30 Jahren endete ein diesbezüglicher Versuch, es nicht nur beim Denken zu belassen: 1981 gelangte in Frank­reich eine sozialistisch-»kommunistische« Regierung ins Amt. Diese Regierung verstaat­lichte nicht nur Banken, sondern auch Produktionsunternehmen; der Siegeszug des Neoliberalismus stand mit den vorhergehenden Wahlerfolgen von Thatcher und Reagan (der allerdings eher eine militärkeynesianistische als Austeritätspolitik betrieb) gerade erst am Anfang; das »Lambsdorff-Papier«, das das Ende der sozialliberalen Koalition in der BRD einläutete, war noch nicht geschrieben und es war auch später dann, als es geschrieben und diese Koalition zerbrochen war, viel weniger der ‚Masterplan’ des deutschen Neoliberalismus, als anderthalb Jahrzehnte später die Agenda 2010. Es gab noch kampffähige Gewerkschaften, die in Frankreich auch kampfwilliger als in der BRD waren. Und es gab das ‚real’sozialistische Lager noch. Die »Europäische Union« hieß noch »Ge­meinschaft« – es gab also noch keinen Mastricht-Vertrag und auch die folgenden Verträge noch nicht –, und der Ausdruck »Globalisierung« war noch nicht erfunden – und trotzdem scheiterte dieser Versuch eben gerade an der Kapitalflucht.

Und gerade die Kapitalflucht verweist auf ein grundlegendes Problem der Strategie des »friedlichen Übergangs« bzw. des »französischen Wegs zum Sozialismus«, wie es im dama­ligen Jargon hieß: Umso mehr Hoffnungen eine Wahlkampagne und die allgemeine gesell­schaftliche Situation dem Kapital macht, daß die Suppe am Ende doch nicht so heiß ge­gessen wird, wie sie zuvor propagiert wurde, desto später wird die Kapitalflucht einsetzen. Umso früher einschneidende Maßnahmen gegen Kapitalflucht angekündigt werden, desto früher wird die Kapitalflucht und der ökonomische Druck auf die WählerInnen einsetzen – und desto geringer die Wahrscheinlichkeit eines Wahlerfolges sein. Die Maßnahmen ge­gen Kapitalflucht nicht anzukündigen, überhaupt eine relativ softe Wahlkampagne zu be­treiben und dann aber ‚über Nacht’ die Maßnahmen gegen den Kapitalflucht zu ergreifen, dementiert aber den ganzen Anspruch auf einen ‚demokratischen’ (= friedlichen) Weg zum Sozialismus. Das heißt also: Keine self-fullfilling, sondern eine selbst widerlegende Strate­gie.

Aber selbst einmal diesen Grundsatz-Einwand beiseite gelassen und zugestanden, daß es auch heute prinzipiell einen quasi-sozialpartnerInnenschaftlichen Kompromiß zwischen Lohnarbeit und Kapital geben kann (und in der Tat steht ja im Wahlprogramm von SYRIZA nichts von »[friedlichem – oder auch nicht] Übergang«, Sozialismus und Antikapitalismus:

Ein Problem bleibt aber: Auch die vermeintliche »Sozialpartnerschaft« ist kein Geschenk des Kapitals an die Lohnabhängigen; selbst sie muß erkämpft werden. Damit kommen wir auf die Ausgangsfrage zurück: Kann die Strategie mitten im Kampf gewechselt werden, ohne die Truppe darauf vorzubereiten?

Meine Antwort darauf lautet: Nein! – Die ganze Politik von SYRIZA der letzten Jahre war auf eine einvernehmliche Lösung innerhalb der Eurozone – d.h.: letztlich einen Kompro­miss mit dem Neoliberalismus – ausgerichtet; von dieser Linie nun auf einmal auf den Ver­such einer konfrontativen Durchsetzung eines linkskeynesianistischen Kurs außerhalb des Euroraumes umzuschalten, kann nicht mitten in der Schlacht passieren.

Costas Lapavitsas vom linken SYRIZA-Flügel sagte vor einer Woche, am 17. Juli – wohl bei der »Democracy Rising World Conference 2015« – die Brüsseler Vereinbarung sei kein neuer Brester Frieden, sondern noch nachteiliger – und ich würde ihm zustimmen. Der Brester Frieden ließ den Bolschewiki ihr Hinterland, in dem sie – je nach dem inneren Kräfteverhältnis – ihre Politik fortsetzen konnten. Die Brüsseler ‚Unterwerfungs-Vereinba­rung’ vom 13. Juli macht die SYRIZA-Regierung dagegen im Inneren zu einem Ausführungs-Agenten des neoliberalen EU-Mainstreams.

Aber – und dies ist nun der entscheidende Punkt meiner Argumentation – genauso wenig, wie die Bolschewiki 1918 – statt des Brester Friedens – einfach eine Offensivstrategie hät­ten verfolgen können, kann SYRIZA (und DAS übersehen die ganzen verbal-radikalen »Verrats«-Schreier!) einfach von einer Verhandlungs- zu einer Konfrontationsstrategie über­gehen.

Was SYRIZA heute braucht (wenn sie denn als Einheit erhalten werden soll oder will) ist der Rückzug – und damit den Spielraum, die eigenen Truppen zu reorganisieren –, den der Brester Frieden für die Bolschewiki bedeutete. Das heißt, die Leistung, die Tspiras, der beansprucht (und m.E. zu Recht beansprucht!), für die Sache von SYRIZA hart gekämpft zu haben, jetzt erbringen sollte, wäre, zurückzutreten und SYRIZA die Gelegenheit zu ge­ben, nicht (als Regierungspartei: zwangsläufig) handeln zu müssen, sondern denken zu können: die entstandene Lage zu analysieren; eine neue Strategie zu entwerfen; sie in der griechischen Gesellschaft zu kommunizieren – und einen neuen Anlauf zu unternehmen und dabei die Lehre des großen Meisters der antiken griechischen Kriegskunst zu beach­ten und vor dem nächsten Anlauf länger und intensiver zu denken, und sich nicht wieder als 35-Prozent-Partei in einer Flaute der sozialen Bewegungen (gestützt auf eine undemkratische 50 Sitze-Bonus-Regelung für die stärkste Partei und einen rechtspopulistischen Bündnispart­ner), in ein Regierungs-Abenteuer zu stürzen:

Wir denken unsere Handlungen richtig durch, so ließ Thukydides in seinem »Der Pelopon­nesische Krieg« den Athener Politiker Perikles sagen, »denn nicht schaden nach unserer Meinung Worte den Taten, sondern vielmehr, sich nicht durch das Wort vorher belehren zu lassen, ehe man an die nötige Tat herangeht« (Buch II, Vers 40). – Das Problem an SYRI­ZA ist nicht, daß sie bisher nicht radikal genug gehandelt hat, sondern daß sie schon für ihre bisherigen – in der Tat nicht sonderlich radikalen – Handlungen, zuvor nicht radikal genug gedacht hat; nicht bedacht hat, daß ihr (noch) die nötigen konzeptionellen und Machtressourcen fehlen, um ihre Wunschzettel erfüllt zu bekommen bzw. vielmehr, sie sich selber erfüllen zu können.

Karl Marx schrieb zwar in den Feuerbach-These, es komme nicht darauf an, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu ändern – aber, ohne sie vorher erkannt zu haben, wird es auch nicht möglich sein, sie zu ändern!

Detlef Georgia Schulze, Jahrgang 1967, ist promovierteR PolitikwissenschaftlerIn und bloggt unter dem Namen TaP (Theorie als als Praxis) zu politischen und theoretischen Themen.

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