Im Zeichen der Fledermaus

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Erst kamen die Mücken, dann die Fledermaus. Ich rede von meiner ersten Nacht hier in Venedig, das ist nun bald fünf Wochen her. Schuld sind die Eigentümerin und deren Putzfrau, das sind zwei ältere Damen, von denen man auf den ersten Blick nicht wüsste, wer von ihnen wer ist.

Dabei hatte ich den Kampf um die Mückengitter an den Fenstern bereits gewonnen. Die Eigentümerin hatte schließlich sogar auf die angedrohte Extrakaution verzichtet. Denn weil die Mieter auf Zeit diese empfindlichen rolloartigen Gitter immer wieder beschädigten, hatte sie an diesen Schlösser anbringen lassen. Mückengitter sollte es fortan nur noch für die Familie geben. Doch für mich machte man dann eine Ausnahme. Die eine der älteren Damen, die Eigentümerin, legte vor meiner Ankunft die Mückenschutzgitterschlüssel auf den Tisch. Die andere der beiden älteren Damen, die aufmerksame Putzfrau, nahm sie wieder weg. Ein Irrtum, der tags darauf, wie man mir sofort versicherte, korrigiert werden sollte. Eine Nacht wird es schon ohne gehen!

Das dachte ich auch, ließ die Fensterläden eine Handbreit auf, um nicht in der schwülen Hitze zu ersticken, dann kam das Surren der Mücken - und dann fächelte mir im Halbschlaf jemand wie mit einem Fächer Luft zu. Wer sollte das sein? Nach einer Schocksekunde und dem Griff zum Lichtschalter sah ich sie immer hektischere Runden durch das Zimmer drehen. Eine überaus große Fledermaus.

Um es gleich zu sagen: Nicht die Fledermaus erwies sich als verhaltensgestört, ich war fortan in den Augen all derer verhaltensgestört, denen ich mit gedämpfter Panik von der nächtlichen Fledermaus erzählte, die nach mehreren fehlerfrei geflogenen Runden durch das von mir weit aufgestoßene Fenster verschwand. Die Fledermaus hatte die Mücken gejagt, sich dabei in mein Schlafzimmer verirrt, na und?

Wollte ich alle Phasen meiner Hysterie beschreiben, würde es lange dauern. Jedenfalls bin ich ganz nebenbei per Internetrecherche zu einem Fledermausexperten geworden. Die Welt teilt sich zweifellos in jene, die Fledermäuse für nützlich halten, und jene, die in ihnen eine Gefahr sehen. Ich gehöre eindeutig zu letzteren. Denn wenn auch Hunde und Füchse inzwischen fast überall tollwutfrei sind: nicht die Fledermaus. In Hamburg wurde kürzlich eine Frau von einer tollwütigen Fledermaus in den Finger gebissen, das war allerdings am Tage, und sie hatte das am Boden liegende Tier angefasst. Mein Fall liegt anders, gewiss. Jedoch, woran merkt man, wenn man von einer Fledermaus gebissen wird? Die einen sagen, durch einen heftigen Schmerz, die anderen sagen, manchmal merkt man überhaupt nichts. An diesem »manchmal« arbeitet sich nun meine Phantasie ab. Das wäre dann doch so etwas wie unbefleckte Empfängnis, nur absolut tödlich?

Vergiss es!, sagt mein schwer von medizinischen Bagatellen aus der Ruhe zu bringender Chirurgen-Bruder am Telefon. Das sind absolute Einzelfälle, ist also eher eine theoretische Angelegenheit. Auf jeden Fall müsste überhaupt erst einmal eine Wunde vorliegen. Wenn dich aber eine Fledermaus beißen sollte, sagt er noch, dann wasch die Wunde einfach mit Seife aus. Wenn mich eine Fledermaus beißen sollte, antworte ich, dann bin ich eine halbe Stunde später in der Notaufnahme des Ospedale!

Die Venezianer, das passt zu ihnen, lieben ihre Fledermäuse. Vor allem, weil sie keine hatten. Vor einigen Jahren gab es in der Stadt eine große Kampagne zu ihrer Ansiedlung. Schafft den Fledermäusen ein Zuhause!, lautete der Spruch. Denn eine Fledermaus frisst, wenn es darauf ankommt, Tausende von Mücken in einer Nacht, auch die sich hier ausbreitende Tiger-Mücke, die im Verdacht steht, Tropenkrankheiten zu verbreiten. Aber die Fledermäuse meiden das schmutzige Wasser der Kanäle, darum sind sie immer noch selten. Außer der in meinem Schlafzimmer habe ich hier überhaupt noch keine gesehen.

Trotzdem sind sie so etwas wie Helden. Kürzlich prallte ich am Lido zurück, als jemand einen Drachen steigen ließ: in Form einer bösartig grinsenden Fledermaus. Ich finde, das geht zu weit. Passend dazu fand ich ein zur Wohnung gehörendes Buch auf meinem Nachttisch, das gewiss einer der Vormieter liegen ließ. Es ist ein Venedig-Roman der besseren Art von Alberto Ongaro und heißt »Das Spiel mit dem Tod«. Ein Sohn der Stadt kehrt in winterlicher Szenerie aus einer ihm auferlegten Verbannung zurück und findet sein bisheriges Leben nicht mehr wieder. Es beginnt ein surreales Spiel, das er nur so lange überleben kann, wie er weiterspielt. Einen Satz darin habe ich mir angestrichen: »Doch ich war es müde, in einer Wirklichkeit herumzuirren, die ich nicht recht fassen konnte, war es müde, mich Phantasien und Ängsten zu überlassen.«

Ab und zu kann ich auch mal wieder einen klaren Gedanken fassen. Warum passt die Fledermaus, bei der man unwillkürlich an einen Vampir denkt, denn so nach Venedig? Ein Foto steht mir vor Augen: Hemingway 1954 in Venedig. Der Autor sieht müde, wie gebrochen aus. Er war gerade in Ostafrika mit dem Flugzeug abgestürzt und kam nach Venedig, um sich von seinem Arzt Graf Kelcher behandeln zu lassen, oder mit ihm in schweigender Schicksalsergebenheit etwas zu trinken. In seiner Suite im Gritti-Hotel soll er seine gesamte Expeditionsausrüstung deponiert haben, 87 Koffer, samt Jagdgewehren und Massai-Lanzen! Auf dem Foto aber ist nicht eigentlich er das interessante Motiv, sondern jemand anderes, der spitzohrig und rundäugig in die Kamera lächelt, wohlwissend, dieses Foto ist Gold wert: Giuseppe Cipriani.

Dieser Cipriani ist die leibhaftige venezianische Fledermaus des 20. Jahrhunderts! Ein kleiner Kellner, der in den 20er Jahren alles Geld, das er besitzt, einem Amerikaner namens Harry Pickering leiht, damit dieser nach Amerika zurückkehren kann, dann lange nichts mehr von ihm hört. Pickering kehrt irgendwann doch nach Venedig zurück und aus Dankbarkeit gibt er Cipriani das Kapital für eine eigene Bar: jene »Harrys Bar«, in der er dann höchstpersönlich jeden vor die Kamera schleift, der einen werbewirksamen Namen hat. Hemingway durchschaut die Inszenierung natürlich, spricht in einem seiner Bücher davon, dass bei diesem Menschen alles »immer nur Gesten waren« - er bezog das auf die romantisierende Diva D’Annunzio, aber auch Cipriani durfte sich gemeint fühlen.

Der Selbstdarsteller Cipriani wird berühmt als Erfinder des Carpaccios, jener dünnen rohen Streifen Rindfleisch, die er nach einem Anfang der 50er Jahre in Venedig angesagten Maler benannte, der kurzzeitig mit satten Rot-Tönen auf sich aufmerksam machte und heute schon wieder vergessen ist.

Es dauerte nicht lange, dann gehörte Cipriani auf der Giudecca nicht nur »Harrys Bar«, sondern auch das »Cipriani«, ein Luxushotel, in unscheinbarer Kulisse verborgen. Das Carpaccio kostet hier, je nach Beilage, vierzig bis fünfzig Euro. Aber erstaunlicherweise gibt es dafür ein Publikum, denn die Restaurant-Plätze am Kanal sind jeden Abend gut besetzt.

Ich verkehre hier nur indirekt, denn zwischen »Harrys Bar« und dem »Cipriani«-Hotel verläuft auch meine abendliche Jogging-Strecke (die Giudecca ist eine schmale Insel, da sind die Wege gezählt). Einige der mit ihrer überteuerten Fracht meinen Weg kreuzenden Kellner hätte ich so beinahe schon umgerannt. Worauf mich dann giftige Fledermausblicke treffen.

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