Die besorgten Bürger von Suruc

Zu Gast in einem syrischen Flüchtlingslager an der türkischen Grenze

  • Fabian Köhler, Suruc
  • Lesedauer: 7 Min.
300 Flüchtlinge, 300 Tragödien, gefühlt 300 Einladungen zum Tee. Eine Geschichte über die Fremdenfreundlichkeit echter besorgter Bürger - und den Gegensatz zu Deutschland.

Es ist einer der heißesten Tage des Jahres, als dieser Ausländer unerwartet die Straßen irgendeines deutschen Dorf entlang läuft. Nennen wir es Freidorf. Die Haare ungewaschen, die Hose voller Staub, das T-Shirt verschwitzt. Sein Deutsch als holprig zu bezeichnen, wäre beschönigend.

Freidorf ist typisch für diese Region: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, den Landkreis haben die meisten allenfalls einmal verlassen, wenn die Verwandtschaft aus dem Westen zur Goldenen Hochzeit einlud. Einmal in der Woche kommt der Bäcker auf Rädern. Aber ansonsten bleibt man meist unter sich.

Als die ersten Einheimischen neugierig die Vorhänge zur Seite ziehen, haben die Kinder schon ihr Spielzeug in den Straßengraben geworfen. »Ausländer, Ausländer« rufen sie und rennen lachend auf den Fremden zu. Ein kleiner Ronny erreicht ihn als ersten und greift stolz seine Hand. Er wird sie für die nächsten Stunden nicht mehr loslassen. Eine kichernde Mandy wirft Luftküsse. Günther, der Dorfälteste, bietet dem Besucher an, ihn durch die Straßen zu führen.

Am Ende des Tages wurde der Fremde rund achtmal zum Essen, zwanzigmal zum Tee und ein Dutzend Mal auf Facebook eingeladen. Er weiß, dass Ingrid nachts immer wach wird, seitdem sie ihren Mann im Krieg verloren hat. Dass Justins Traum, Maschinenbau zu studieren, am fehlenden Geld scheiterte. Und dass Susi sich nichts mehr wünscht, als endlich ihren Bruder wiederzusehen.

Die Geschichte ist nicht frei erfunden, nur in Deutschland passiert sie wohl nie. Eine Viertelstunde Fußweg vom Zentrum der südtürkischen Stadt Suruc und zwölf Kilometer von Kobane im Norden Syriens entfernt liegt das Dorf, das in Wahrheit ein syrisches Flüchtlingslager ist. Mandy und Ronnie heißen eigentlich Hamudi und Shila. Der verschwitzte Fremde bin ich. Und nicht nur Ingrid hat einen Verwandten im Krieg verloren, sondern jeder einzelne der 300 Bewohner. Wirklich jeder.

Das Lager zwischen Altmetallhandel und Brachland würde einen guten Parkplatz hergeben. Aber wer stellt schon sein Auto in diese Hitze. Bis zu acht Menschen leben in einem Container, das Modell, das man von deutschen Baustellen kennt. Innen wird es tagsüber oft über 50 Grad heiß, draußen spendet der Container zumindest etwas Schatten. Dem pinken Fußball auf dem Schotterplatz rennen die Kinder trotzdem hinterher.

Die Flüchtlinge stammen aus dem Ort, der einmal Ain al-Arab war. Eine kurdische Siedlung mit rund 60 000 Einwohnern an der türkisch-syrischen Grenze. Lange war es eine unbedeutende syrische Stadt ohne orientalische Basare, römische Amphitheater und Großstadtleben. Dann kam der Krieg und brachte erst die Unabhängigkeit und dann den Terror des Islamischen Staats (IS). Aus Ain al-Arab (arabisch), nur ein paar Meter von der türkischen Grenze und gefühlte Millionen Kilometer weit vom Rest der Welt entfernt, wurde Kobane (kurdisch). Eine Stadt, die die Welt erst kennenlernte, als von ihr fast nichts mehr übrig war.

»Die Welt hat uns verlassen«, sagt Abu Ziyad und drängt mit Nachdruck darauf, doch seinen Platz auf dem Plastikstuhl einzunehmen. Wie alle hier ist er vor dem Terror des IS geflüchtet. »Was willst du machen, wenn sie ankündigen, dich zu köpfen und deine Töchter auf dem Sklavenmarkt von Raqqa zu verkaufen«, sagt er und versucht seine Wehmut mit einem Grinsen zu verdecken. Ob er Arbeit habe? »Nein, niemand von uns«, sagt Abu Ziyad mit nun doch erkennbarem Unbehagen. Die Bewohner werden von Anwohnern und kurdischen Parteien versorgt. Wie türkische Behörden die Flüchtlinge behandelten, will ich wissen. Aber da zerrt mich Hamudi schon in den Sprühregen des gerade angekommenen Wassertrucks.

»Wir hatten alles«, sagt der 25-jährige Adnan und meint das Gemüse, den Stromgenerator und »Wasser aus dem Brunnen«, das die Selbstverwaltung den Kurden im Norden Syriens vor vier Jahren brachte. »Weißt du, die Menschen hatten Angst vor Assad, aber wir wollten auch nicht die sogenannte Revolution, die uns Freiheit versprach, aber Zerstörung brachte und bei der es in Wahrheit nur ums Geld ging. Wir wollten einen dritten Weg«, sagt er. Als Assads Truppen abzogen, hätten sie die Polizeiwache übernommen und eine »Regierung des Volkes eingesetzt«: »Es waren unsere ersten echten Wahlen.« Ob er daran glaube, dass es wieder so werden wird wie vorher? »Ich hoffe, nein, ich weiß es.« Sein Gesicht sieht aus, als meine er es ernst.

Nicht nur rund 80 Prozent der Häuser von Kobane und das Leben von Tausenden Bewohnern hat der Krieg gegen den IS gekostet. Auch für jene, die überlebt haben, ist kaum etwas vom alten Leben übrig geblieben. Seit Monaten geht keines der Kinder zur Schule, sind die Erwachsenen ohne Arbeit, weiß niemand, ob und wann es irgendwann wieder so etwas wie Heimat geben könnte, ob der Krieg der Türkei gegen die Kurden nicht auch bald hier ankommen wird.

Wirtschaftliche Verlustängste, fehlende Perspektiven, schlechte Bildung, das Gefühl von »der Politik« des Alleingelassenseins, all das, womit in Deutschland der Hass auf Fremde gerechtfertigt wird, gibt es an der türkisch-syrischen Grenze tausendmal schlimmer. Nur die besorgten Bürger mit den Anführungszeichen findet man weder inner- noch außerhalb des Flüchtlingslagers.

Der Selbstmordanschlag von Suruc, bei dem am 20. Juli 15 Fußminuten von hier entfernt 31 linke türkische Aktivisten mit in den Tod gerissen wurden, ist eine dieser Sorgen ohne Anführungszeichen. »Die Menschen haben geschrien. Viele sind in Panik umhergerannt. Überall lagen Teile von Körpern, Arme, Beine«, berichtet Adnan vom Tag des Anschlages, den er überlebt hat, weil er sich fünf Minuten vorher auf den Weg zurück vom Kulturzentrum ins Flüchtlingslager machte. Viele türkische Freunde habe er an dem Tag durch den IS verloren. Seinen Bruder, der bei der syrischen Kurdenmiliz YPG kämpfte, hatten sie ihm schon in Kobane genommen.

»Wir wollten helfen, das ist doch ganz normal«, sagt auch der End-Fünfziger Ibrahim über den Tag, »als mal wieder der Boden bebte«, und fragt, ob ich vielleicht wüsste, wie es den Verletzten im Krankenhaus gehe. Überall in der Stadt stehen die Wasserwerfer und Schützenpanzer der türkischen Polizei, auch ein paar hundert Meter vom Flüchtlingslager entfernt. Nicht wegen des IS und schon gar nicht, um Flüchtlinge vor Anwohnern zu schützen, sondern ... Ja, warum eigentlich? »Sie mögen uns Kurden einfach nicht und deshalb töten sie selbst ihre eigenen Leute«, sagt Ibrahim. Ob er mit »sie« den IS oder die türkische Regierung meint, fügt er nicht extra hinzu, ohnehin gelten beide in Suruc dies- und jenseits des Zauns, der das Flüchtlingslager umgibt, als Feind.

»Wir sind alle Kurden, egal, auf welcher Seite der Grenze wir leben«, ist eine Antwort, die man auch außerhalb des Flüchtlingslagers so häufig bekommt, dass sie sich niemand Bestimmtem zuordnen lässt. »Ja, Anfeindungen gebe es manchmal.« Aber nicht, weil der eine aus Syrien und der andere aus der Türkei stammt, »sondern weil einer von beiden einfach ein Arschloch ist«, sagt Ibrahim, als seine Frau die nächsten Weintrauben und ein Foto der in Kobane getöteten Tochter bringt.

Am anderen Ende des Lagers döst im Schatten eine Alt-Männerrunde vor sich hin. »Weißt du«, sagt einer von ihnen, »die Demokratie haben wir schon längst aufgebaut, der Rest sind doch nur noch Steine.« Ein paar Container weiter bittet die zwölfjährige Shila noch einen Witz erzählen zu dürfen: »Reitet Erdogan auf einem Pferd und trifft einen Kurden. Sagt der Kurde: ›Was kostet der Esel?› Sagt Erdogan: ›Welcher Esel? Du Trottel, das ist ein Pferd!‹ Sagt der Kurde: ›Halt die Klappe, ich rede mit dem Pferd.‹«

Nachdem alle zu Ende gelacht haben, bittet sie mich, auch ihren Container zu besuchen. Mit ihrer zehnjährigen Schwester Ihlas wartet sie dort vor einer in kurdischen Farben geschmückten Wand. Fotos erinnern an ihre fünf getöteten Geschwister. Unter konstantem Kichern erzählen auch sie von ihren Sorgen, denen ohne Anführungszeichen: Ob ich denn genug Wasser und Sahnebonbons habe, wollen sie zum wiederholten Male wissen. Ob sie mir vielleicht noch einmal eines ihrer kurdischen Revolutionslieder vorsingen könnten. Und wie es denn eigentlich den syrischen Flüchtlingen in Deutschland gehe.

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