Ein amerikanischer Alptraum

Dr. Dre hat mit »Compton« ein bemerkenswertes Alterswerk vorgelegt

  • Tobias Riegel
  • Lesedauer: 6 Min.

Als in den späten 80er Jahren eine mysteriöse »Crackwelle« über die Schwarzenghettos der USA »hereinbrach«, brachte das nicht nur Sucht und Elend in die Bezirke. Es spülte auch viel Geld in die Hände dealender Gangs. Die so provozierten Verteilungskämpfe lösten eine Welle der Gewalt aus, die etwa die kalifornische Polizei mit drakonischen Mitteln in den Grenzen der betroffenen Viertel zu halten versuchte - mit so großer Brutalität, dass dies 1992 die LA-Riots mit auslöste. Indizien, Untersuchungsausschüsse des US-Senats und Zeugen wie der heutige US-Außenminister John Kerry legen zudem nahe, dass die Basis der »Crackwelle« - Tonnen an spottbilligem Kokain - in den 80er Jahren mit Duldung der CIA in die USA geschmuggelt wurde, um mit dem Profit die »Contras« in Nicaragua zu unterstützen.

Ein winziger Teil dieser Millionenprofite floss aber auch an die Kleindealer in Compton, einem afroamerikanisch geprägten Vorort von Los Angeles - etwa an Eazy-E. Der investierte seine Crack-Dollars in ein Tonstudio und lud seine Kumpels mit den Künstlernamen Dr. Dre und Ice Cube ein - die Hip-Hop-Crew NWA (»Niggas with Attitude«) war geboren. So hatten also das als rassistisch verrufene LA-Police-Department und die CIA ihren Anteil an der Gründung eines neuen schwarzen Musikstils: des Gangster-Raps, des neoliberalen Ego-Soundtracks zu Crack-Pest, Polizeibrutalität und (männlich-)pubertärer Selbstbehauptung.

Eine frühe NWA-Produktion war das legendäre »Fuck the Police« (1988), das zur Hymne der LA-Riots und zur Anklage gegen die heute wieder grassierende Polizeigewalt wurde. Der Überraschungshit hatte eine provokative Wucht, wie man sie damals nur vom Punk kannte. Neu war aber gerade, dass hier knallharte Inhalte nicht von harten Gitarren, sondern von einem groovigen, clubtauglichen Beat transportiert wurden. Und den hatte der als NWA-Produzent nicht nur musikalisch dominante Andre Romell Young, alias Dr. Dre zu verantworten. Nun hat der 50-Jährige mit »Compton« ein großes Alterswerk vorgelegt. Und wieder ist es die Polizeibrutalität, die dem Album den Anschein von Aktualität gibt: Die Parole »Fuck the Police« hallt so laut durch die Ghettos wie seit 20 Jahren nicht.

Am Anfang des Hip-Hop gab es zwei Plattenspieler und ein Mikrofon, irgendwann die ersten Drumcomputer. In New York wechselte Ende der 80er Jahre der Staffelstab von Oldschool-Party-Rappern zu düsteren, teils politischen East-Coast-MCs. Kalifornischer Hip-Hop existierte nicht. Dann kam Dr. Dre: Die Musik wurde elaborierter, die Samples länger, am Ende wurden sie teils selber gespielt. NWA war schnell Geschichte, doch der von Dr. Dre kreierte G-Funk fegte den politischen Rap aus New York für lange Zeit von der Landkarte. Auf seinen heute legendären Soloalben »The Chronic« (1992) und vor allem »2001« (1999) kochte Dr. Dre das selber angerichtete musikalische Durcheinander auf einfachste Beats herunter. Dann trat er als Solokünstler einfach ab, produzierte Rekord-Erfolge am Fließband, führte Snoop Dog und Eminem, den ersten und einzigen weißen Rapper, an die Chartspitze und machte den weißen Rock im Hip-Hop salonfähig. Dr. Dre wurde zum Gründervater diverser Stile, auf den sich »seine« Rapper in Songs immer wieder liebevoll beziehen.

Nun also die erste »Soloplatte« seit 16 Jahren. Dr. Dre ist ein höchstens durchschnittlicher Rapper. Der Reiz seiner Stimme speist sich aus einem Zusammenspiel von künstlicher Verknappung und persönlichem Mythos. Wenn Dr. Dre nun doch noch mal zum Mikrofon greift, ist das, als würde ein alter Mafiapate den Colt noch einmal selber in die Hand nehmen - etwas schwach auf der Brust, aber mit der Autorität eines verdienten Kriegers. Darum sind auch seine Rap-Parts kurz gehalten, werden ständig musikalisch oder von anderen Sängern ergänzt und unterbrochen, was die Tracks ziemlich verspielt macht. Bei Dr. Dre erwartet man - und erhält es mit »Compton« - eine schillernde, raue und schlüssige Basis für bekifftes Kopfkino, erstellt von dem angesagtesten und begabtesten Personal, das Kaliforniens Rap-Szene zu bieten hat.

Apropos Colt: Wer Rap-Texte für bare Münze nimmt, hat das Genre nicht begriffen. Es ging nie darum, all die Morde, die besungen werden, auch zu begehen. Wie Thrillerautoren liefern die Rapper mehr oder weniger mitreißende Gewaltfantasien. Darum kann man auch Dr. Dre, wie nun oft geschehen, kaum Heuchelei vorwerfen. Die Sex- und Crime-Geschichten waren schon immer ausgedacht. Sie unterhalten jetzt nicht minder, nur weil der Schöpfer ein paar Millionen Dollar mehr auf dem Konto hat.

Auch geht es dem West-Coast-Hip-Hop nicht um soziale Umverteilung, sondern darum, wie ein Jeder für sich ein größeres Stück vom Kuchen ergattern kann. Es gibt also keine Heuchelei: Die schlimme neoliberale Philosophie des Genres lag wie die dreiste Frauenfeindlichkeit immer offen.

Ausgerechnet in den Sturmgeschützen des Sozialismus, in der »Welt« und der »FAS«, sieht sich Dr. Dre nun dem »Vorwurf« ausgesetzt, einen großen Deal mit Apple getätigt zu haben. Bei weißen Superstars ist die Betrachtung eine andere: Als etwa U2 eine neue Platte ungefragt allen iTunes-Nutzern aufs Handy spielte, regte man sich allenfalls darüber auf, dass man den musikalischen Müll nicht einfach löschen konnte. Aber geht ein Rapper mit der Industrie ins Bett, dann ist schnell von Verrat und schwindender Credibillity die Rede. Schwarze müssen scheinbar arm sein und »Black Power« rufen. Da Dr. Dre aber (im Gegensatz zu U2) niemals den Gutmenschen markiert hat, hat er in dieser Hinsicht gar keine Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Die Platte ist ein Nostalgietrip in die von Dr. Dre dominierten 90er Jahre. Das liegt auch am Auftritt der alten Recken Xibit, Snoop Dog und Ice Cube. In die Zukunft weisen die Parts des Wortakrobatikers Kendrick Lamar - und die Musik: »Compton« ist eine düstere Collage, zerhackt von Breaks und Tempo-Wechseln. Lässt man sich auf diesen Kosmos aus Testosteron, Dollars und Pistolen einmal ein, ist er so mitreißend wie der Besuch eines opulenten Actionreißers, mit vielen Sensationen, aber auch peinlichen Defiziten. Dr. Dre präsentiert hier einen amerikanischen Alptraum in Cinemascope mit triolischen Hihats, synkopierten Snaredrums und Claps, verzerrten und souligen E-Gitarren, dramatischen Streichern, rauchigem E-Piano, vielen Synthies, viel Pathos und viel Wärme.

Das zeichnet Dr. Dres Songs schon immer aus: dass sie mit dem Joint auf der Couch ebenso kompatibel sind wie mit dem Gin and Juice im Club. Musik, Arrangement und Breaks auf »Compton« sind so elaboriert, dass es den prolligen Charakter des Gangster-Rap abmildert. Durch seinen Reichtum und seinen Guru-Status ist Dr. Dre zudem unbestechlich und kann wohl ziemlich selbstbestimmt arbeiten. Das äußerst sich in teils experimentellen Sounds und der unverändert harten Fuck-You-Haltung. Reduzierte er die Musik auf »2001« noch auf ein unspektakuläres Minimum, so sucht er auf dem erwachsenen und keiner Mode folgenden »Comptom« durchaus das Spektakel.

Die Platte wird nicht zum Soundtrack der Ferguson-Proteste werden, den hat Dr. Dre schon 1988 geschrieben. Das Album ist eher vom kommenden NWA-Biopic »Straight outta Compton« inspiriert, die Texte behandeln also zu großen Teilen den Auf- und Abstieg der Band, deren Geschichte chronologisch erzählt wird: vom naiven Traum vom Erfolg bis zur abgeklärten Rückschau, gewürzt mit Polizei-Kritik. Inhaltlich gibt es also wenig Neues. Das kann man auch mit den Zeilen des Dr.-Dre-Klassikers »Still D.R.E.« von 1999 beschreiben: »Still puffing my leafs, still fuck with the beats, still not loving police.«

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