Völker hört ...

Thomas Darnstädt über Nürnberg 1945

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 2 Min.

Das Buch von Thomas Darnstädt ist ein Parforceritt durch die Geschichte des modernen Völkerrechts, dessen Geburtsstunde mit dem Nürnberger Tribunal 1945/46 respektive den jenen Prozess vorbereitenden Dokumenten schlug. Der Jurist und »Spiegel«-Redakteur begründet: »Im normalen Strafprozess gibt es eine klare Reihenfolge: Zuerst ein Strafgesetz, dann eine Tat … 1945 war alles anders. Am Anfang war die Tat: das Jahrtausendverbrechen der Nazis. Doch das Gesetz, das es ermöglichen sollte, diese Tat als Verbrechen zu verurteilen, wurde erst im Nachhinein geschrieben: die Charta von London.« In Deutschland war daher jahrzehntelang von »Siegerjustiz« die Rede.

Der Autor erzählt plastisch von den Nürnberger Prozessen, zitiert aus den Akten und berichtet von den Schwierigkeiten, denen sich die Ankläger gegenübersahen. Angesichts der teils fundamental konträren Vorstellungen der vier Siegernationen, in deren Ländern unterschiedliche Rechtsordnungen herrschten, mussten Kompromisse gefunden werden. Der Bericht des Gerichtspsychiaters wirft ein bezeichnendes Licht auf den Charakter der Angeklagten. Der Schreibtischmassenmörder Göring empfand die drohende Hinrichtung durch den Strang als schändlich und hoffte auf einen »ritterlichen« Tod durch Erschießen. Als ihm dies verwehrt wurde, beging er Selbstmord. General Jodl schrieb an einem Manuskript, in dem er über einen »Dritten Weltkrieg« mit Atomwaffen sinnierte. Da der Kalte Krieg bereits begonnen hatte, hoffte er, davonzukommen. Aber auch er endete am Strang.

In den letzten Kapiteln beleuchtet Darnstädt die Weiterentwicklung des Völkerrechts. Kenntnisreich berichtet er über die UN-Menschenrechtscharta und die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. Der Sondergerichtshof für Libanon kam 2011 zum Ergebnis, dass es inzwischen einen »völkerstrafrechtlichen Tatbestand des internationalen Terrorismus« gibt. Hinsichtlich des von den USA deklarierten »Krieges gegen den Terror« warnt Darnstädt: »Wenn das Völkerstrafrecht in seinem bejubelten Bemühen, die Menschenrechte besser zu schützen, über die Ufer tritt, das breite Bett seiner Aufgaben verlässt und sich daranmacht, gegen das Böse anzutreten, egal, woher es kommt, wird es am Ende in der breiten Ebene der Missachtung versickern.«

Ein Buch, das nicht nur Juristen und Politikern nachdrücklich empfohlen sei.

Thomas Darnstädt: Nürnberg. Menschheitsverbrechen vor Gericht 1945. Piper, München/Berlin 2015. 416 S., geb., 24,99 €.

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