Gute Geschäfte mit dem Westbalkan

Das Glücksversprechen des Kapitalismus ist auf dem Westbalkan nie eingelöst worden

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 3 Min.
Für Nicolai Hagedorn sind die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Albanien Opfer der deutschen Exportwirtschaft. Dass ausgerechnet sie wieder schnell abgeschoben werden sollen, findet er zynisch.

Über zwei Jahrzehnte nach Ende des Sozialismus liegt das monatliche Bruttoeinkommen eines albanischen Polizisten unter dem deutschen Hartz-IV-Satz. Zu dieser Erkenntnis kommen derzeit nicht etwa unverbesserliche Marxisten, sondern Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) höchstpersönlich. Er hält das offenbar für ein gutes Argument dafür, dass Flüchtlinge von dort möglichst schnell zurückgeschickt werden müssen.

Wenn es darum geht, den besorgten Bürgern bei ihren längst handgreiflichen Angriffen auf Asylbewerber und ihre Unterkünfte populistische Munition zu liefern, sind die rechten Hardliner in der Union nicht weit. Das Taschengeld für Wirtschaftsflüchtlinge vor allem vom Westbalkan, ein Betrag von sage und schreibe 143 Euro pro Monat, war den Konservativen dann doch zu viel des Guten. »Diese Zahlungen sind ein Anreiz für viele Menschen vom Balkan, nach Deutschland zu kommen und das Geld mit nach Hause zu nehmen«, erklärte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) gegenüber der »Welt«. Und dass, ohne dabei zu bemerken, welch erbärmliches Armutszeugnis er der nunmehr 25 Jahre währenden kapitalistischen Entwicklung in den ehemals sozialistischen Ländern Ex-Jugoslawiens und Albaniens damit ausstellte. »Im Jahr 2014 bewegte sich das Bruttosozialprodukt der Westbalkanstaaten einschließlich Kroatiens noch immer zehn Prozent unter dem Niveau des Jahres 1989, als der Zerfall Jugoslawiens begann«, erklärt Dusan Reljic von der Stiftung Wissenschaft und Politik. »Ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung und 50 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos, Investitionen erfolgen spärlich, die Nachfrage bei den zwei wichtigsten Handelspartnern, Deutschland und Italien, nach Produkten und Dienstleistungen ist verhalten, die staatliche Verschuldung steigt ebenso wie die Auslandsmigration, und die extreme Armut, vor allem in Kosovo, breitet sich aus.«

Allein in den ersten sieben Monaten dieses Jahres wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge über 76 000 Erstanträge auf Asyl von Menschen aus den Balkanländern Serbien, Albanien, Kosovo und Mazedonien gestellt. Das sind knapp 40 Prozent aller Asylanträge in diesem Zeitraum. Diese Herkunftsländer gelten als »sichere Drittstaaten«, was in der Logik deutscher Technokraten offenbar genügt, um zu der Auffassung zu gelangen, diese Leute seien keineswegs hilfebedürftig, sondern missbrauchten das deutsche Asylsystem. Dabei sind die Flüchtlingsströme aus Ländern, die keine zehn Autostunden von Deutschland entfernt liegen, direkte Folge der rücksichtslosen deutsch-europäischen Wirtschaftspolitik, die noch der unterentwickeltsten Volkswirtschaft den letzten Tropfen Eigenständigkeit aussaugt. Im vergangenen Jahr erzielte die deutsche Wirtschaft einen Überschuss im Handel mit Albanien von 186 Millionen Euro und mit Serbien von gut 650 Millionen US-Dollar, letzteres bei einem Handelsvolumen von insgesamt nur knapp über vier Milliarden. Die Bundesrepublik macht also gute Geschäfte in den Staaten, aus denen jetzt die Menschen dahin fliehen, woher all die günstigen Produkte kommen, die den Industrien in ihren Heimatländern keine Entwicklungsmöglichkeit lassen.

Das Glücksversprechen des Kapitalismus ist auf dem Westbalkan nie eingelöst worden. Stattdessen arbeiten die Menschen dort mittlerweile zu Hungerlöhnen. Im vergangenen Juli lag der Durchschnittsnettolohn in Serbien bei umgerechnet knapp 380 Euro. Das ist selbst bei Lebenshaltungskosten, die bei rund 60 Prozent von denen in Deutschland liegen, kläglich.

Das einseitige exportorientierte Wirtschaftsmodell Deutschlands, das die Bundesregierung seit Jahren auch allen anderen Mitgliedern der Europäischen Union aufdrängt, exportiert neben den vielen Waren auch die Arbeitslosigkeit in die kapitalistische Peripherie. Das hat lange gut funktioniert. Doch nun kommen die Arbeitslosen als sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge und Asylsuchende zu uns. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel, de Maizière, Herrmann und die willigen Helfer aus der Sozialdemokratie sind die Opfer ihres eigenen ökonomischen Imperialismus asylmissbrauchende Schutzsuchende zweiter Klasse. Die Opfer von Krieg und politischer Verfolgung dürfen bleiben, die Opfer der eigenen Politik will man nur möglichst schnell loswerden - eine sehr deutsche Logik.

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