Notwendiger Zynismus

»Charlie Hebdo«: Karikatur zu EU-Flüchtlingspolitik sorgt für teils harsche Kritik

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon die Meldung, die am Mittwoch einige Zeitungen verbreiteten (u.a. »Handelsblatt« und »Huffington Post«) beruht auf einem Irrtum. Das französische Satire-Magazin »Charlie Hebdo« habe in seiner neuesten Ausgabe einen Cartoon veröffentlicht, der den kürzlich im Mittelmeer ertrunkenen syrischen Jungen Aylan zeige, der mit dem Gesicht nach unten tot am Strand unweit von Bodrum (Türkei) liege. Aylan ist auf der Zeichnung jedoch gar nicht zu sehen. Es ist gibt auch vom Zeichner keinen Hinweis darauf, dass die leblose Figur jener Junge sein soll, der zur Symbolfigur der schrecklichen Folgen der EU-Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge wurde. Neben dem ertrunkenen Kind steht ein Schild im Stil einer McDonald’s-Werbung, auf dem zu lesen ist: »Zwei Kindermenüs zum Preis von einem«. Darüber die Worte: »So nah an seinem Ziel ...«

Die Verbindung zwischen der Karikatur und dem Tod Aylans entsteht nur im Kopf des Betrachters. Genau das aber ist der Kern aller Satire: Im Kopf Assoziationen zu erzeugen, die zum Nachdenken anregen. Oder zum Aufregen. Und Aufregung gab es am Mittwoch viel um die Zeichnung. Türkische Medien warfen »Charlie Hebdo« vor, dass die Karikatur den ertrunkenen Aylan verspottet, andernorts war die Rede davon, dass sich das Satire-Magazin hinter der Pressefreiheit verstecke. Viele Nutzer der sozialen Netzwerke im Internet kündigten der Zeitschrift die Freundschaft auf, die sie Anfang des Jahres nach den Anschlägen auf die Redaktion von »Charlie Hebdo« noch frenetisch geschworen hatten. »Je ne suis pas Charlie« (»Ich bin nicht Charlie«) hieß es in Anspielung auf die Parole vom Januar »Je suis Charlie« (»Ich bin Charlie«).

Die Botschaft hinter diesem Aufkünden einer kurzen Freundschaft: Satire finden wir nur gut, solange sich der Spott über andere ergießt. Wird man selbst getroffen, hört der Spaß auf. Auf wen die Karikatur zielt, erläutert die Redaktion von »Charlie Hebdo« so: Man habe mit dem Abdruck der Zeichnung auf den derzeitigen Medienhype in Europa anspielen wollen. Es sei schon extrem naiv oder gar zynisch, wenn viele Medien behaupten, das Foto eines ertrunkenen Kindes werde dazu führen, dass »ein Ruck durch die Europäer« gehe und sie nun mehr Flüchtlinge aufnehmen würden, kritisieren die Blattmacher. Der Zeichner von »Charlie Hebdo«, Laurent »Riss« Sourisseau, hat wohl gut gezielt und gut getroffen.

Das trifft umso mehr auf eine andere Karikatur in der aktuellen Ausgabe des französischen Satire-Magazins zu, die ebenfalls von »Riss« stammt. Die trägt den Titel »Der Beweis, dass Europa christlich ist« und zeigt einen Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Nazarener Jesus hat und der über die Oberfläche des Meeres spaziert, aus welchem die Beine eines Kindes herausragen. In der Sprechblase der Christus-Figur steht: »Christen laufen auf dem Wasser«. Das Kind lässt verlauten: »Muslimische Kinder gehen unter«. Im Netz kommt harsche Kritik vor allem aus der christlichen Ecke.

In Abwandlung eines Filmtitels von Rosa von Praunheim muss man dieser Kritik entgegnen: Nicht der Zeichner ist zynisch, sondern die Verhältnisse sind es, in denen er lebt.

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