Die Bären sind los
Eine Mensch-Tier-Kommune im Leinebergland
Die Bären ruhen lässig an den Gitterstäben, manchmal zusammengekuschelt, die langen Krallen in Wartestellung, kleinäugig und listig die Umgebung musternd, verhalten bettelnd und anscheinend zufrieden, ja vertrauensselig. Sie sind alle in Alfeld geboren, gewissermaßen also tierische Bürger der Stadt. Übrigens ist »Fräulein Nora von Kraml« tatsächlich Ehrenbürgerin von Gundelfingen (wo die berühmten Höhlenbärenfunde gemacht wurden). Bären schwimmen gern, entweder in den großen Becken im Hof oder gemeinsam mit dem Meister in der Leine. Manchmal nimmt der sich einen, und zusammen machen sie einen Ausflug mit dem Jeep. Der Bär genießt den Fahrtwind und erstaunt die Vorbeifahrenden.
Der »Bärenflüsterer«
Die Wohnküche ist gewissermaßen das Kommandozentrum der Kommune. Heide K., Lehrerin für Medizinalberufe, ist die rechte Hand des »Oberbären« Dieter Kraml, organisiert, telefoniert, schreibt hier. Neulich, als Bruno noch frei durch die Alpen trabte, traten sich die Filmteams verschiedener TV-Sender gegenseitig auf die Füße. Alle wollten sie wissen, wie der »Bärenflüsterer« die Lage sehe, gilt er doch als einer der besten Kenner dieser Tiere in Deutschland. Mit der Bärin Nora hat er sich angeboten, Bruno aus der Schusslinie zu locken. Aber die Bayern haben ihn abblitzen und den Ausreißer abknallen lassen. »Das soll nicht noch mal passieren«, knurrt Kraml, »dann werde ich selbst zum Bären.« Man glaubt ihm das sofort, wenn er so massig mit leuchtenden Augen im grünen Arbeitsanzug in der Stube steht und mit seinen Bärenpranken gestikuliert. Von morgens bis in die Nacht ist er für seine Bären tätig. Er will »dafür sorgen, dass Bären in Deutschland wieder eine Chance haben und nicht im Kugelhagel von Jägern verenden«.
Wenn man ihm zusieht, wie er scheinbar spielerisch mit den graubraunen Kolossen, die immerhin leicht 200 Kilogramm Gewicht und 2 Meter Höhe erreichen, ist ein aus tiefem Verständnis erwachsendes Können zu spüren. Bären sind spielfreudig und begeisterungsfähig, aber auch vergesslich. Sie müssen immer wieder motiviert und belohnt werden: Am liebsten haben sie ausgerechnet Gummibärchen. Dieter Kraml versteht sich ausdrücklich nicht als Tierbändiger, sondern als zwar übergeordneter, aber gleichwertiger Partner. »Es ist eine Allianz auf gleicher Stufe.« Die Bären seien nicht zu unterwerfen, sondern zu akzeptieren.
In der Halle hinter den Käfigen, von den Zuschauern nur durch ein dünnes Band getrennt, tollen sie herum, spielen Ball und suchen versteckte Gegenstände. Kraml, der sich als Mittler zwischen ihnen und dem Menschen versteht, mittendrin. Keine Spur von Angst. Er sieht sich als Gebender und Nehmender. Denn, richtig angegangen, ist es die »Tierarmee«, die dem Menschen helfen und Kraft verleihen kann. Die »Naturvölker« hätten das gewusst und danach gelebt. Tiere faszinieren ihn, sie seien eindeutig und wahrnehmend. Jahrzehntelang hat er ein Löwenmedaillon getragen. Im Unterbewusstsein weiß er sich von einem Greifvogel (»mein Totem«) beschützt; in praxi hat er beim Auswildern von Falken geholfen.
Warum aber gerade Bären? Auch bei ihm hat es mit einem Teddybären angefangen, sein Onkel nannte ihn »August, der Bär«. Mit zwölf Jahren bekam er seinen ersten Jungbären, Nancy. Bären, sagt er, sind sehr menschenähnlich. Sie können aufrecht gehen, seien schmiegsam, lernfähig und knuddelfreudig. Auch der junge Eicke findet das, und möchte manchmal selber so ein Bär sein - bequem leben, fressen, spielen, schlafen. Dieter Kraml hat sich seinen Lebenstraum, von richtigen Bären umgeben zu sein, erfüllt. Er fühlt sich ihnen seelenverwandt. »Viellicht war ich in meinem früheren Leben selbst ein Bär.« Er fühlt sich für seine Schützlinge ihr Leben lang, das an die 40 Jahre währen kann, verantwortlich. »Sie sind meine Kinder.« Als eine Bärin ihm einmal ihr gerade Geborenes überlässt, war das für ihn »das größte Glück«. Von Geburt an teilen die Bären ihr Leben mit ihm - und sterben auch in seinem Arm, was ihm sehr zusetzt. Bisweilen schlafen sie gar in seinem Bett. »Nur manchmal schnarchen sie zu laut«, lacht er. Seinen Leitspruch hat er von einem japanischen Philosophen: »Wer dressiert, hat nur einen Roboter«. Er tanzt, badet, tollt lieber mit den Bären und nimmt sie in seine behutsame Schule.
Seine Leidenschaft ist ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt worden. Der Vater war ein bekannter Dresseur, der bei Hagenbeck ausgebildet wurde und für Stosch-Sarrasani eine berühmte Zebra-Elefanten-Revue aufführte. Der Zirkus-Veteran Rolf Knie lernte bei ihm. Seine Mischgruppe aus Tigern, Löwen und verschiedenen Bärenarten war berühmt und bildete den Eckstein der Dompteurelite des Staatszirkus der DDR. Ein Tierhändler aus Alfeld holte den Vater dann als Hausdresseur in das Leinestädtchen. Nachdem er sich selbständig gemacht hatte, unternahm er mehrere Reisen mit Tierschauen nach Lateinamerika. Zu jenem Zeitpunkt waren Sohn Dieter und dessen Ehefrau Helga längst in die Auftritte einbezogen. Sie warteten mit einem vielseitigen Trickrepertoire auf. Bären, schrieb die »Cirkuszeitung« 3/1996, »sind seine Bestimmung, und er hat diese Tiere, die stark und schwer und doch wieder von verblüffend rascher Gewandtheit sind, gutmütig und dann wieder von kalter Klugheit, oftmals in überwältigender Lust oder krachendem Zorn zu außerordentlichen Leistungen erzogen.« Er verwende keine Beißkörbe und halte seine Lieblinge mit ausgedehnten Waldspaziergängen bei Laune. Gipsy, Bianca und Max dankten es ihm mit sanfter Zärtlichkeit.
Vom Dompteur zum Freund
Das war eigentlich schon ein Nachruf. Denn der Dompteur wandelte sich mehr und mehr zum Partner der Tiere, verabschiedete sich von der Manege und wandte sich neuen Erwerbsquellen zu. Seit über 20 Jahren verdient er sich und seiner Bären Lebensunterhalt durch Auftritte in Film, Fernsehen und Werbespots. Seit 1968 ist der gebürtige Leipziger in diesem Geschäft, das drei Jahre später richtig losging mit »Macbeth« von Roman Polanski. Das sind immer große Herausforderungen für ihn, weil die Bären dann auf bestimmte Weise agieren und dennoch nicht dressiert wirken sollen. »Ohne einen siebten Sinn für sie geht es nicht.« Es schloß sich »Der Bär« von Jean-Jaques Annaud an, in dem das Tier die Hauptrolle spielt. Die sehr langwierige Arbeit dauerte sechs Jahre. Auf diese Weise hat Kraml Steven Spielberg, Rudi Carrell, Marcello Mastrioanni und Jean-Paul Belmondo kennen und schätzen gelernt. Mit letzterem drehte er den Film »Das As der Asse«, in dem Juden mit Bärenhilfe vor den Nazis gerettet werden. Diese Arbeiten liebt er sehr, ermöglichen sie ihm doch den einzigen Urlaub, den er sich mit seinen Bären erlauben kann. Sie tun nur das, was von ihnen erwartet wird, wenn er ihnen mit Einfühlung, Geduld und Autorität begegnet. »Wenn sie brummen, fühlen sie sich wohl.«
Ein strikter Ökologe mag die Nase rümpfen. Aber welche Alternative gäbe es in einem so dicht besiedelten Land? Zirkus und Zoo sind gewiss keine. Dieter Kraml weiß, dass seine Bären Bewegung brauchen, einen naturbelassenen Wald, wo sie unter Baumstümpfen buddeln und herumklettern können. Er verfügt bereits über mehrere tausend Quadratmeter Freigehege, träumt von einem großen Gelände in Kanada. Aber vielleicht muss er gar nicht so weit weg. Ein Gönner hat ihm ein 35 Hektar großes Grundstück mit Wald auf einer Hügelkuppe hoch über der Stadt angeboten. Derzeit ist er mit seinen Helfern dabei, es einzuzäunen und für seinen Zweck verwendbar zu machen. Eine Arena für Tierkultur, ein Streichelzoo und Hundelaufplatz sollen entstehen, Spielgelegenheiten für Kinder und ein Abenteuercamp für Jugendliche, und vor allem sollen seine Bären ein gutes Leben haben. In diesen Wochen soll alles fertig werden. Allein könnte er das niemals schaffen.
Es trifft sich gut, dass das Projekt mit dem Namen »Bärenwelten in uns« e.V. nicht nur in der Filmwelt auf fruchtbaren Boden fällt. Ständig ist Dieter Kraml mit einer Schar von Helfern zugange, die er anweist, anspornt und lobt. Zu seinem engsten Team gehören (gelegentlich) seine Tochter Franziska, die Kauffrau Sabine und Winfried, der Lehrer, welcher Geschäftsführer des Vereins ist. Auch der Computerspezialist Micha, der Elektriker Marc und die ehemalige Bankerin Edda sorgen fast rund um die Uhr für die Bären, die Säuberung der Käfige, die Fütterung, den Auslauf. Seit Jahren sind sie mit von der Partie. Die Bären scheinen einen Pflegeinstinkt zu wecken.
Kein Bärendienst für Eicke
Das Projekt versteht sich bewusst auch als soziales. Dieter Kraml ist kein puristischer Tierfreund. Ihm geht es um die Gemeinsamkeit mit den Bären, die sich mit den Menschen »unterhalten«. So tritt seine Bärentruppe im »grünen Klassenzimmer« vor Grundschulklassen oder in Seniorenheimen auf. Die Behinderten der »Lammetal-Werkstätten« kommen zu Besuch und freuen sich an den Tieren. Im Lauf der Jahre sind ca. 100 Jugendliche, die den »Bärenwelten« vom Gericht zur »gemeinnützigen Arbeit« zugewiesen sind, in ihnen tätig gewesen - und das gern, wenn man dem Hörensagen glauben kann. Laut Dieter Kraml lernen die »Gestrauchelten«, oft aus zerfallenen Familien, im Team eine Menge: Verantwortung, Zuverlässigkeit und handwerkliche Fähigkeiten, gemeinsames Essen und Klönen nicht zu vergessen. »Von den Tieren sollen sie lernen, Respekt vor anderen zu haben und ihre Probleme ohne Gewalt zu lösen.« Tiere, so sagt er, geben unmittelbar zurück, was sie empfangen, darin liege ein zweiter, therapeutischer, Wert der Arbeit. Im Gegensatz zur menschlichen Ambivalenz wären sie eindeutiger und vermitteln bzw. verlangen eine deutliche Orientierung.
Eicke hat schon viele gemeinnützige Arbeiten hinter sich. Die mit Tieren, etwa im Zoo oder auf einem Bauernhof, haben ihm am besten gefallen. Bei seinen Eltern, zwischen denen und einem Heim er pendelt, hält er Dutzende Tauben verschiedener Art und weitere Vögel sowie zwei Königspythons, Meerschweinchen und anderes. Vom Gericht wurde er »verknackt« wegen Autodiebstahls, Körperverletzung und - behaupteter, sagt er - Vergewaltigung. Er sieht alles andere als nach einem »schweren Jungen« aus.. Die Arbeit mit den Bären liebt er, vor allem das Füttern und Streicheln. Nur zwei, die immer, wenn er auftaucht, nach vorn springen, erschrecken ihn. Bären als Haustiere kosten zwar viel Geld und Zeit, führt er aus, aber sie haben ein einfaches, gutes Leben, um das er sie beneide. Gegenwärtig leistet er im Projekt 80 Stunden ab. Einen Schulabschluss hat er nicht, will aber im Herbst eine Berufsschule für Holzbau besuchen. Natürlich, erzählt Dieter Kraml, gelinge die Resozialisierung der Jugendlichen nicht immer. Aber manche hätten wieder Fuß gefasst und kämen noch nach Jahren freiwillig wieder, um zu helfen oder ein Gespräch zu führen.
»Auf der Bärenhaut liegen«, jemandem einen »Bärendienst« erweisen oder einen »Bären aufbinden«, ein »ungeleckter Bär« sein oder den »Bärenführer spielen« - das Spruchgut hat sich, teils seit der Antike, gern des Bären angenommen. Ein Stück von dieser Faszination steckt auch in den »Bärenwelten« von Alfeld an der Leine. Es hängt auch von den Betreibern ab, was und wie davon sich realisiert. Selbst wenn der Bär kein verzauberter Prinz ist wie in dem anrührenden Märchen »Schneeweißchen und Rosenrot«, hat das Ganze in seinem Mensch-Tier-Bündnis und in seiner sozialen Ausrichtung in unseren Zeiten etwas Märchenhaftes an sich. Die überzeugendsten Märchen sind doch die der Wirklichkeit.
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