Gysi: »Natürlich wurde der Osten vereinnahmt«

Linksfraktionschef will nicht von Wiedervereinigung sprechen: »Das war ein Beitritt« / Kipping kritisiert »Politik des sozialen Kahlschlags« nach 1990 / CDU im Nordosten zieht positive Bilanz / Woidke: »Vor uns liegt noch ein harter Weg«

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Berlin. Vor den offiziellen Feiern anlässlich des 25. Jahrestags der staatlichen Einheit von Bundesrepublik Deutschland und Deutscher Demokratischer Republik haben Politiker der Linkspartei die Versäumnisse des 3. Oktober 1990 kritisiert. Für Linksfraktionschef Gregor Gysi hat die deutsche Wiedervereinigung diese Bezeichnung nicht verdient. »Das war ein Beitritt, ein Beitritt der DDR zur Bundesrepublik«, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. »Natürlich wurde der Osten vereinnahmt, vor allem die Wirtschaft.« Gysi sagte, durch Volksentscheide hätten sich die Bevölkerungen beider Staaten damals eine neue Verfassung geben können. »Dann wäre ein neuer Staat entstanden.« Diese Chance sei verpasst worden.

Die größten Versäumnisse der Wiedervereinigung seien für ihn der mangelnde Respekt vor ostdeutschen Biografien gewesen, und dass die Westdeutschen nicht von der Einheit profitiert hätten. »Man hätte ja auch zehn Sachen aus dem Osten einführen können, zum Beispiel ein flächendeckendes Netz von Kindertagesstätten oder eine Kinderbetreuung an den Schulen auch nachmittags«, sagte Gysi. »Das hätte auch die Lebensqualität der Menschen im Westen verbessert und ihnen damit ein Einheitserlebnis beschert.« Auch nach 25 Jahren ist die Einheit aus Sicht von Gysi nicht vollendet. Der Osten liege wirtschaftlich immer noch zu weit zurück. Außerdem müsse gleicher Lohn für gleiche Arbeit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung gewährleistet werden.

Wessen Einheit?

Das nd zum 3. Oktober.
Schon am Freitag am Kiosk.

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Mädchen, Dame 
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Zusammengestellt von Tom Strohschneider

3. Oktober 1990
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Linken-Chefin Katja Kipping verwies darauf, dass »für die Älteren im Osten« der Jahrestag »oft mit gemischten Gefühlen verbunden« sei. »Zum einen ist da die Freude über gewonnene politische und kulturelle Freiheiten, die Möglichkeit, überall hin reisen zu können. Negativ fällt hingegen in die Waagschale die gestiegene Erwerbslosigkeit, die brutale Abwicklung vieler Betriebe durch die Treuhandanstalt oder die Diskriminierung des Ostens bei der Rente«, so die Bundestagsabgeordnete. Der Verlust sozialer Absicherung und von Verschlechterungen im Bildungsbereich seit 1990 sei nicht nur »eine besondere Erinnerung der Bürger der ehemaligen DDR«.

Mit Blick auf eine Studie sagte Kipping, die Mehrheit im Osten wie im Westen habe »eine gemeinsame Wahrnehmung darüber, was die soziale Entwicklung in Deutschland seit der Vereinigung betrifft. Und tatsächlich wurde der Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus von den politischen Eliten vor allem dazu genutzt, die sozialen Rechte zu schleifen«. Die Politik »des sozialen Kahlschlags, die in den Jahren nach der Vereinigung folgte, führte dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander ging«.

Die Chance zu »einem fairen Vereinigungsprozess« sei »weder gesucht noch genutzt« worden, kritisierte die Linkenpolitikerin Es sei »den westdeutschen politischen Eliten damals nicht darum« gegangen, »aus dem Besten aus zwei politischen Systemen ein neues demokratisches und soziales Land zu entwickeln. Vielmehr ging es den Herrschenden nur um eines: die Chance zur neoliberalen Umstrukturierung Deutschlands rücksichtslos zu nutzen. Die Selbstdiskreditierung des gescheiterten autoritären sozialistischen Gegenmodells bot ihnen diese Gelegenheit«, so Kipping.

Führende CDU-Politiker Mecklenburg-Vorpommerns haben dagegen eine positive Bilanz der zurückliegenden 25 Jahre gezogen. »Der wirtschaftliche Aufbau ist eine beispiellose Leistung aller Menschen in unserem Bundesland«, sagte Wirtschaftsminister Harry Glawe am Donnerstag in Schwerin. Von 1991 bis 2014 habe sich die Wirtschaftsleistung im Land auf 38 Milliarden Euro fast verdreifacht. Auf den »großen Schritt vom DDR-Unrechtssystem in die freiheitlich-demokratische Grundordnung« verwies Justizministerin Uta-Maria Kuder. Binnen kürzester Zeit sei die Justiz neu aufgestellt worden. »Endlich konnten sich die Menschen gegen Entscheidungen von Behörden mit rechtsstaatlichen Mitteln zur Wehr setzen. Das war im SED-Staat nicht vorgesehen«, so Kuder. Auch Thüringens früherer Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) wertet die Wiedervereinigung Deutschlands »alles in allem« als gelungen. Allerdings bleibe noch eine Menge zu tun, sagte Vogel dem »Mannheimer Morgen«.

Ostdeutschlands Bürger haben nach Überzeugung von Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) allen Grund, den 25. Jahrestag stolz und selbstbewusst zu feiern. Die Ostdeutschen hätten in den vergangenen Jahrzehnten ihren Beitrag geleistet, Deutschland zu modernisieren, sagte Woidke am Donnerstag in Potsdam. Als Beispiele nannte er die Kinderbetreuung, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die Rolle der Frau in der Gesellschaft sowie »zeitgemäße medizinische Versorgungszentren«. All das gebe Kraft, weiter für die Vollendung der Einheit zu wirken. »Vor uns liegt noch ein harter Weg«, ergänzte der Ministerpräsident. Der Osten müsse weiter daran arbeiten, seine strukturellen Nachteile in der Wirtschaft auszugleichen, »die Arbeitslosigkeit noch weiter zu senken und auch bei den Renten die Einheit zu vollenden«.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderte derweil für den Biotopverbund »Grünes Band« an der früheren innerdeutschen Grenze die Anerkennung als »Nationales Naturmonument«. Dieser Schutzstatus, der bisher noch für kein Gebiet vergeben worden sei, entspreche der Bedeutung des »Grünen Bands« als herausragendes ökologisches und historisches Denkmal, sagte der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger in Berlin. »Der Koalitionsvertrag in Thüringen enthält bereits die Zielsetzung der Ausweisung des Grünen Bands als Naturmonument. Die anderen Bundesländer am früheren Grenzstreifen müssen sich dem anschließen. Und die naturbelassenen Gebiete entlang des gesamten früheren Eisernen Vorhangs - auch unter dem Namen 'Grünes Band Europa' bekannt - müssen von der Bundesregierung und weiteren 23 Anrainerstaaten als UNESCO-Welterbe vorgeschlagen werden«, forderte Weiger. nd/Agenturen

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