Werbung

Tausende auf den Straßen nach Anschlag in Ankara

HDP: »Ein Angriff des Staates auf das Volk« - Regierung hat Anschlag »entweder organisiert oder nicht verhindert«

  • Lesedauer: 7 Min.

Update 19.30 Uhr: Nach dem verheerenden Terroranschlag in der Türkei haben in mehreren deutschen Städten Tausende Kurden und Sympathisanten gegen den Terror demonstriert. Bei Kundgebungen machten Teilnehmer den türkischen Staat und den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan für die Tat verantwortlich. »Kein Beileid für Erdogan aussprechen, denn er ist der Täter«, stand auf einem Schild bei einer Demonstration am Samstag in Hamburg. Die größte Kundgebung wurde aus Stuttgart gemeldet, wo spontan etwa 5000 Menschen auf die Straße gingen.

In Hamburg beteiligten sich 1500 überwiegend Kurden, in Berlin 1000, in Freiburg etwa 700 und in Mannheim bis zu 400. »Sag Nein zum Staatsterror« forderten 200 Teilnehmer in Karlsruhe. In Heilbronn kamen etwa 350 Menschen zu einer Demo der Kurdischen Gemeinschaft. Auch in Dresden, Ulm, Heidenheim und Pforzheim wurde demonstriert. Nennenswerte Zwischenfälle wurden nicht bekannt.

Update 19.00 Uhr: In Paris haben mehrere tausend Menschen ihre Solidarität mit den Kurden in der Türkei bekundet. Bei einem Marsch durch die französische Hauptstadt riefen Teilnehmer Parolen, in denen sie den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan als »Mörder« bezeichneten, wie ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Die Demonstranten forderten eine »politische Lösung für Kurdistan«. Sie hielten die Banner verschiedener kurdischer Gruppen hoch.

Nach Angaben der Polizei nahmen 3000 Menschen an dem Marsch teil. Am Samstag hatten sich bereits rund tausend Demonstranten in Paris versammelt, um nach dem Anschlag in Ankara ihre Solidarität mit den Kurden zu bekunden

Update 14.45 Uhr: Etwa 80 Kurden haben am Sonntag in Dresden gegen den Terroranschlag in der türkischen Hauptstadt Ankara protestiert. Zu der Spontandemonstration auf dem Theaterplatz hatte der Dresdner Verein Deutsch-Kurdischer Begegnungen aufgerufen. Auf einem Plakat wurde der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Terrorist bezeichnet. Nach Schätzungen des Vereins sollen in Dresden 500 bis 600 Kurden leben, in ganz Sachsen 3000. Ein Mitglied der kurdischen Gemeinde in Dresden vermisse noch seinen Bruder, der an der Demonstration in Ankara teilgenommen habe, hieß es.

Update 13.25 Uhr: Papst Franziskus hat den Opfern des Terroranschlags in der Türkei und ihren Angehörigen sein Mitgefühl ausgesprochen und für sie gebetet. »Gestern haben wir mit großem Schmerz die Nachricht von dem schrecklichen Attentat in Ankara in der Türkei erhalten«, sagte der 78-Jährige am Sonntag nach dem Angelus-Gebet auf dem Petersplatz in Rom. »Schmerz wegen der vielen Toten. Schmerz wegen der Verletzten. Schmerz, weil die Attentäter wehrlose Menschen getroffen haben, die für den Frieden demonstriert haben.« Der Argentinier sagte vor Zehntausenden Pilgern, er bete für die Türkei und die Opfer des Anschlags in Ankara und bitte den Herrn, »die Seelen der Verstorbenen aufzunehmen und die Leidenden und die Angehörigen zu trösten«.

Update 11.25 Uhr: Nach dem Terroranschlag mit mindestens 95 Toten in der Türkei haben in der Hauptstadt Ankara zahlreiche Menschen der Opfer gedacht. Nach Schätzungen versammelten sich am Sonntag rund tausend Menschen auf dem Sihhiye-Platz, wie auf Fernsehbildern zu sehen war.Nach Angaben der pro-kurdischen HDP trieb die Einsatzpolizei am Sonntag eine Delegation aus Abgeordneten und Gewerkschaftlern auseinander, als diese Nelken vor dem Anschlagsort ablegen wollten. Mehrere regierungskritische Gewerkschaften kündigten einen zweitägigen Streik an. In einer Presseerklärung von Sonntag hieß es: »Um unserer verstorbenen Freunde zu gedenken und um gegen das faschistische Massaker zu protestieren, sind wir ab morgen im Streik.« Alle politischen Parteien, Arbeiter und Berufsverbände sollten sich dem Streik anschließen.

»Ein Angriff des Staates auf das Volk«

Berlin. Nach dem tödlichen Anschlag auf eine Friedensdemonstration linker Gruppen, Parteien und Gewerkschaften in Ankara ist die Zahl der Toten auf 95. gestiegen. 246 Menschen wurden verletzt. In Istanbul und anderen Städten des Landes gingen Tausende aus Trauer und Wut auf die Straße. Allein in Istanbul beteiligten sich schätzungsweise 10.000 Menschen an der Protestkundgebung gegen den autoritären Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative Regierung. Spontane Demonstrationen wurden auch aus mehreren europäischen Ländern gemeldet. Pro-kurdische und linke Kundgebungen gab es unter anderem in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main und Stuttgart. Die Polizei sprach von einem friedlichen Verlauf der Proteste.

Am Samstagmorgen hatten zwei starke Explosionen die Umgebung des Hauptbahnhofs der türkischen Hauptstadt erschüttert. Auf Videoaufnahmen war zu sehen, wie Demonstranten sich tanzend auf die Demonstration einstimmten, als plötzlich hinter ihnen eine gewaltige Detonation erfolgte. Am Ort des Anschlags lagen später dutzende Leichen am Boden.

Zu dem regierungskritischen Protestmarsch hatte unter anderen die Kurdenpartei HDP aufgerufen. Ihr Ko-Chef Selahattin Demirtas sprach von einem »riesigen Massaker« und einem »barbarischen« Angriff auf diejenigen, die Frieden im Land und kein Blutvergießen wollten. Demirtas äußerte Zweifel, dass die Regierung von dem Anschlag überrascht wurde. »Ist es möglich, dass ein Staat mit so einem starken Geheimdienstnetzwerk im Vorfeld keine Informationen über den Anschlag hatte?« Laut HDP richtete sich der Anschlag gegen die Kurdenpartei, die Sprengsätze wurden demnach am Aufmarschplatz der HDP-Delegation gezündet.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sagte, der Anschlag sei vermutlich von zwei Selbstmordattentätern verübt worden. Er verdächtigte die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Dischahistenmiliz Islamischer Staat (IS) oder Linksextremisten der DHKP-C, hinter dem Attentat zu stehen. Innenminister Selami Altinok sprach von einem »Terrorakt« gegen den Staat, die Demokratie und das türkische Volk. Er wies Vorwürfe zurück, die Sicherheitskräfte hätten die Demonstration nicht genügend abgesichert. Die Regierung rief eine dreitägige Staatstrauer aus.

»Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk«, sagte dagegen Demirtas. Er fügte an: »Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut.« Demirtas kritisierte, die islamisch-konservative Regierung habe weder den Anschlag auf pro-kurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt. Ein HDP-Funktionär, der anonym bleiben wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Führung des Landes habe den Anschlag »entweder organisiert oder nicht verhindert«. Die Verdächtigungen Davutoglus nannte er »Unsinn«. Möglicherweise wolle die Regierung den Anschlag dazu nutzen, die für den 1. November geplante Neuwahl abzusagen.

»Eine Demonstration, die Frieden fördern sollte, ist zu einem Blutbad geworden«, sagte tränenüberströmt der 52-jährige Ahmet Onen, der mit seiner Frau zu dem geplanten Protestmarsch gekommen war. Nach seinen Worten gab es »eine große Explosion und dann eine kleinere«. Danach habe sich in der Menschenmenge Panik ausgebreitet.

Wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wurde die Aussendung von Bildern des Anschlags und des Geschehens danach untersagt. Das Büro des Ministerpräsidenten habe für das Verbot Gründe der öffentlichen Sicherheit vorgebracht. Türkische Internetnutzer meldeten unterdessen, dass sie keinen Zugang mehr zu Twitter hätten, wie der Kurzmitteilungsdienst mitteilte. Die Ursache war zunächst unklar, doch hatte die türkische Regierung in der Vergangenheit wiederholt bei heiklen Themen die sozialen Netzwerke blockiert.

Der Anschlag ereignete sich mitten im Wahlkampf für die vorgezogene Parlamentswahl am 1. November. Der Urnengang findet statt, nachdem die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Präsident Erdogan bei der Wahl im Juni ihre absolute Mehrheit verloren hatte, während die linke HDP den Einzug ins Parlament schaffte. Koalitionsgespräche waren gescheitert. Nach einem Anschlag auf ein linkes Solidaritätslager in Suruc hatte das Erdogan-Regimezudem eine beispiellose Repressionswelle gegen linke und kurdische Organisationen losgetreten - unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung.

In den vergangenen Monaten war der Konflikt zwischen der Regierung in Ankara und den kurdischen Rebellen wieder eskaliert. Seit Juli wurden 140 türkische Sicherheitskräfte bei PKK-Anschlägen und 1.700 kurdische Rebellen bei Armee-Bombardements getötet. Kurz nach dem Anschlag von Ankara gab die PKK-Dachorganisation Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) bekannt, sie werde ihre Angriffe bis zur Parlamentswahl einstellen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach der Türkei nach dem Anschlag ihr »tief empfundenes Mitgefühl« aus. Auch US-Präsident Barack Obama kondolierte dem türkischen Präsidenten Erdogan. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und der Präsident der UN-Vollversammlung, Mogens Lykketoft, sprachen der Türkei ihr Mitgefühl ausgesprochen. Ban drückte in der Nacht zum Sonntag über einen UN-Sprecher zugleich die Hoffnung aus, dass die Täter schnell ergriffen und zur Rechenschaft gezogen würden. Lykketoft nannte die Bombenanschläge eine »feige und sinnlose Tat«. Sie werde aber »Menschen und Länder nicht davon abhalten, sich für eine friedlichere, harmonische und nachhaltige Welt einzusetzen«, sagte er. Agenturen/nd

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal