Universität für die Tasche

Ein Berliner Student gründet die deutschlandweit erste Hochschule speziell für Flüchtlinge

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Kiron University ermöglicht Flüchtlingen die Teilnahme an englischsprachigen Online-Kursen - mit Aussicht auf einen regulären Studienplatz an kooperierenden Universitäten. Die erste Hochschule für Geflüchtete.

In den Räumen der Studienberatung ist es ruhig. Kein Gedränge im Gang, keine Schlange vor dem Infoschalter. Von den in manchen Medien beschworenen Flüchtlingswellen, die in die deutschen Universitäten schwappen, ist an der Technischen Universität Berlin nichts zu sehen. Abraham van Veen wundert das nicht. Er ist verantwortlich für das kürzlich gestartete Programm In2TU Berlin, das Geflüchteten den Einstieg an die TU ermöglichen soll. Bisher haben sich dafür lediglich 30 Menschen angemeldet. Ähnlich sieht es an der Berliner Humboldt Universität aus: Dort haben sich 40 Geflüchtete für das Gasthörerprogramm angemeldet. Die meisten haben in ihrer Heimat bereits ein Studium begonnen und wollen es hier zu Ende führen.

Einfach ist das nicht. Den meisten Geflüchteten fehlen ausreichende Sprachkenntnisse. Selbst an der TU, an der 30 Prozent von 4500 Studierenden aus dem Ausland kommen oder einen Migrationshintergrund haben - mehr als an den meisten deutschen Universitäten -, gibt es kaum englische Lehrveranstaltungen. Auch können Asylsuchende nicht immer eine Hochschulzugangsberechtigung aus ihrem Heimatland nachweisen und wie viele Semester sie bereits studiert haben. Und schließlich kann man sich nicht als Student einschreiben und gleichzeitig finanzielle Zuwendungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten.

Markus Kreßler ist das Ganze viel zu bürokratisch. Der Student hat gemeinsam mit Freunden die Kiron University gegründet, um allen Menschen auf der Flucht einen Studienplatz zu ermöglichen. Virtuell, von jedem Ort der Welt aus. Man braucht dazu lediglich ein Smartphone, besser noch einen Laptop. »Eine Universität, die man in die Tasche stecken kann«, sagt Kreßler.

Die Zugangsvoraussetzungen sind simpel: Die Anwärter müssen einen Flüchtlingsstatus nachweisen oder einen Antrag auf Asyl. »Wir unterscheiden nicht zwischen den Gründen, warum jemand aus seiner Heimat geflohen ist«, sagt Kreßler. Auch sonst entfallen die üblichen Hindernisse. »Bei uns müssen sie nicht erst ihr Abitur nachweisen, bevor sie studieren können, sondern können erst einmal mit dem Studium anfangen und die Nachweise nachträglich erbringen.«

Ein Studienplatz an der Kiron-Universität kostet rund 400 bis 1000 Euro pro Jahr. Das seien lediglich drei Prozent dessen, was ein Platz an einer regulären Uni koste - weil fast die gesamten Personalkosten entfallen. Finanziert werden die Studienplätze mithilfe von Crowdfunding: Einzelpersonen können per Klick auf der Plattform Startnext ein Jahresstipendium für einen Flüchtling ermöglichen. Insgesamt sind so bisher rund 170 000 Euro zusammengekommen.

Für sein Projekt hat Kreßler ein Stipendium für das Social Impact Lab in Berlin-Kreuzberg bekommen. Die Start-up-Schmiede für Sozialunternehmen wird vom Softwaregiganten SAP, dem Bundesforschungsministerium und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband gefördert. Helle Räume, weiße Wände, Schreibtische mit Laptops, an denen junge Menschen sitzen, Rückzugs- und Besprechungsräume mit hippen quadratischen Stoffhockern. Im Kühlschrank Getränke, die Gutes bewirken sollen: Charitea und Viva con Agua.

Die Universität in der Tasche ist, einfach ausgedrückt, ein Fernstudium. Flüchtlinge können unentgeltlich an allen Online-Kursen großer Anbieter wie edx und Coursera teilnehmen und Prüfungen ablegen. Andere Nutzer müssen für den Erhalt von Zertifikaten bis zu 200 US-Dollar zahlen. Die meisten Kurse werden auf Englisch angeboten. Die Kiron-Universität ist also genau genommen keine eigenständige Universität, sondern eine Vermittlungsagentur zwischen studierwilligen Menschen auf der Flucht und Anbietern von Unikursen. Oder, wie Kreßler es ausdrückt, eine »vorgeschaltete Universität«.

Kreßler ist selbst noch Student. Ein Semester fehlt ihm noch, um seinen Master in Psychologie abzuschließen. Das Studium brachte ihn dazu, in der psychosozialen Beratung für Flüchtlinge zu arbeiten. Als Geflüchtete aus Heimen in ganz Deutschland im Jahr 2012 am Berliner Oranienplatz ein Camp errichteten, spielte er auch dort Seelsorger und half ganz praktisch beim Ausfüllen von Formularen. Dabei erfuhr er, dass viele der jungen Migranten zu Hause bereits ein Studium angefangen hatten und hofften, hier weiterstudieren zu können. Die hiesigen Universitäten seien aber zu schwerfällig, meint Kreßler. »Flüchtlinge brauchen maximale Flexibilität, das können die Unis nicht leisten.« Was er auch gelernt hat: Viele Ankommende brauchen eine Perspektive, etwas, worauf sie hinarbeiten können, um sich am neuen Wohnort nicht verloren zu fühlen. Diese Perspektive will Kreßler ihnen geben.

Das erste Semester an der Kiron-Universität begann wie an den meisten deutschen Hochschulen am 13. Oktober. Wer sich einschreibt - bisher sind das etwa 300 Studenten -, besucht zunächst ein Jahr ein Studium Generale und belegt verschiedene Kurse, um herauszufinden, wo das größte Interesse liegt. Außerdem können Sprachkurse besucht werden. Im zweiten Jahr entscheiden sich die Studenten für eine von fünf Fächergruppen: Architektur, Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft, Computer- oder Kulturwissenschaft. Diese Fächer wurden bei einer Umfrage unter mehr als 1000 Flüchtlingen im Internet und in Flüchtlingslagern am meisten nachgefragt. Im dritten Jahr sollen die Studenten schließlich an einer physischen Universität studieren. Mit vielen Hochschulen weltweit ist die Kiron University bereits entsprechende Kooperationen eingegangen, darunter mit der RWTH Aachen. Tatsächlich müssen sich die Studierenden nicht an diesen Zeitplan halten - weil sie es unter Umständen gar nicht können: Sie fliehen weiter, werden abgeschoben, müssen sich einen Job suchen, um sich zu finanzieren, gründen eine Familie oder kehren zurück in ihre Heimat.

Von den etablierten Hochschulen wird das Projekt teils hoch gelobt, teils kritisch beäugt. Van Veen von der TU Berlin ist skeptisch, dass das Projekt halten kann, was es verspricht und der Übergang zur regulären Uni klappt. »Wie sollen die Studenten die Voraussetzungen erfüllen, hier einen Studienabschluss erwerben zu können?« Besser gehe das mit den geplanten Studienkollegs von TU und Co. Doch das hieße für die studierwilligen Flüchtlinge: erstmal weiter warten.

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