Der starke Mann von Charkiw
Der umstrittene Bürgermeister Hennadij Kernes wurde wiedergewählt - auch eine Warnung an Kiew
»Du Hurensohn, steh auf. Wenn du deine Aufgaben nicht erfüllst, mache ich dich fertig.« Die Art und Weise, wie Hennadij Kernes mit seinen Unterstellten spricht, ist in der Ukraine fast legendär. So wurde der umstrittene Bürgermeister von Charkiw auch längst zum YouTube-Star. Doch nicht nur seine autoritären Äußerungen sorgen für Überraschungen. Bei den jüngsten Regionalwahlen wurde der 56-Jährige mit sensationellen 65,8 Prozent der Stimmen in seinem Amt bestätigt. Dabei schien die politische Karriere des großen Maidan-Gegners nach dem Sieg der Revolution im Februar 2014 vorbei zu sein.
Aber Kernes ist ein Überlebenskünstler - nicht nur als Politiker. Im April 2014, kurz nach der Maidan-Revolution, wurde der gebürtige Charkiwer in seiner Heimatstadt angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Nach zwei Monaten kehrte Kernes aus einer Klinik in Israel zurück. Dort kämpften die Ärzte intensiv um sein Leben. Seitdem ist der Politiker nur noch im Rollstuhl unterwegs. Doch wer war der Täter?
Die Frage ist ungefähr so kompliziert wie die gesamte Biografie von Kernes. 2004 unterstützte »Gepa«, wie sein Spitzname lautet, noch die »Orangene Revolution« - damals als reguläres Mitglied im Stadtrat. Ein Jahr später wechselte Kernes in die Partei der Regionen des späteren Präsidenten Wiktor Janukowitsch und begann mit der prorussischen Rhetorik. Der Charkiwer wurde schließlich nicht nur zum Vorsitzenden des Stadtrates, sondern auch zum persönlichen Vertrauten Janukowitschs. Doch der eigentliche Knackpunkt seiner Karriere war das Jahr 2010, als Kernes zum ersten Mal für das Amt des Bürgermeisters kandidierte.
Sein Gegner hieß Arsen Awakow, der heutige Innenminister der Ukraine. Awakow, der als persönlicher Verbündeter des Oligarchen Ihor Kolomojskyj gilt, erklärte sich nach der Veröffentlichung der Hochrechnungen zum Sieger der Wahl. Das amtliche Endergebnis sah aber Kernes knapp vorn, was der damalige Bezirkschef Awakow mit massiven Wahlfälschungen erklärte. So wurden die beiden zu Erzfeinden. Awakow musste nach der Wahl sogar aus Angst vor Strafverfolgung ins Ausland fliehen. Der mächtige Oligarch Kolomojskyj übte dagegen Druck auf Kernes im Inland aus.
Während Awakow und Kolomojskyj die Maidan-Revolution 2014 öffentlich unterstützten, schickte Kernes Kampfsportler aus Charkiw nach Kiew, um dort gegen die Demonstranten zu kämpfen. Dies ist nur einer der vielen Vorwürfe gegen ihn, die die ukrainische Staatsanwaltschaft prüft. Ein anderer lautet Separatismus.
Als im April 2014 die Regierungsgebäude in Charkiw genauso wie in Donezk und in Luhansk besetzt wurden, reiste der Innenminister Awakow in seine Heimatstadt und verhandelte mit Kernes. Kurz danach wurde der 56-Jährige niedergeschossen. Eine Warnung? Bemerkenswert ist, dass Kernes bei den Regionalwahlen im Oktober nicht den Oppositionsblock der vielen Ex-Mitglieder der Janukowitsch-Partei, sondern die lokale Vereinigung Widrodschennja (Wiedergeburt) angriff. Und diese Partei wird mit Ihor Kolomojskyj in Verbindung gebracht.
Genau solche Politiker wie Hennadij Kernes wollten die meisten Ukrainer nach der Maidan-Revolution nicht mehr haben. Seine Strukturen gelten als mafiös, seine Vergangenheit ist dunkel und sein Umgang sowohl mit Gegnern als auch mit Verbündeten spricht für sich. Deswegen wurde seine triumphale Wiederwahl zum Schock für viele - aber nicht für die Menschen in der zweitgrößten Stadt der Ukraine. »Ja, Kernes war ein Bandit, doch er ist ein guter Bürgermeister«, erzählen viele Charkiwer.
Das Wahlergebnis von Kernes ist ein deutliches Zeichen für die Führung in Kiew. Die Menschen in Charkiw sind mit der dortigen Regierung überwiegend nicht einverstanden, wollen aber keinen Krieg wie im Donbass. Deswegen findet der harte und schlaue Kurs von Hennadij Kernes so viel Unterstützung. Und wovon redet der Bürgermeister nach der Wiederwahl? »Wir müssen unsere wirtschaftlichen Verbindungen mit Russland wieder stärken. Es geht keinesfalls um Politik, sondern um sichere Arbeitsplätze.« Das kommt in Charkiw gut an. In Kiew wohl eher nicht.
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