Ungebeugt, jedoch belehrt

Alfred Kosing legt ein neues »Marxistisches Wörterbuch der Philosophie« vor

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 3 Min.

Er war einer der profiliertesten Philosophen der DDR und Akademiemitglied. Er hat sich zwar nach 1990 aus dem Staube gemacht und seitdem vorgezogen, an der türkischen Riviera zu überwintern wie auch zu übersommern, aber er gehört zu der nicht größer werdenden Zahl derer, die sich nach wie vor dazu bekennen, Marxist gewesen und »aus gutem Grund« auch geblieben zu sein.

Einst hat Alfred Kosing - zunächst gemeinsam mit Manfred Buhr, seit 1985 in alleiniger Verantwortung - im Berliner Dietz-Verlag in mehreren Auflagen das »Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie« publiziert. Nun hat er dieses Wörterbuch unter einem leicht geänderten Titel erneut veröffentlichen können, unhandlicher in der Form, inhaltlich jedoch aufgefrischt: Es handele sich um die im Ergebnis einer kritischen und selbstkritischen Überprüfung seiner aufgrund der geschichtlichen Vorgänge und eigenen Erfahrungen revidierten, korrigierten und präzisierten Lebensanschauung.

Die Verantwortung für das ganze Unternehmen, dessen provokative Wirkung ihm bewusst ist, wollte Kosing offensichtlich allein schultern. Und er bekennt, ein deutliches Zeichen gegenüber solchen ehemaligen »Marxisten« setzen zu wollen, die sich ohne selbstkritische Auseinandersetzung umstandslos von ihren früheren Überzeugungen trennten, »sofern sie solche überhaupt hatten«.

Die westdeutschen Marxisten von Wolfgang F. Haug bis Hans Heinz Holz bleiben unerwähnt, ebenso das auf fünfzehn Bände angelegte »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« und die »Marx/Engels-Gesamtausgabe«. Rosa Luxemburg und Gramsci spielen kaum eine Rolle, Brecht und Bloch gar keine. Gründe für die Abkopplung seines Marxismus von einem als »works in progress« (Hobsbawm) verstandenen werden nicht genannt. Auch wenn kein Alleinvertretungsanspruch erhoben, sondern eigene Einsichten zu kritischer Erörterung unterbreitet werden: Kollektive Meinungsbildung wie Meinungsstreit unter Gleichgesinnten war einmal. Schade. Um noch etwas Kritisches nachzuschieben: Obwohl Kosing bei seiner Überarbeitung vor allem die sozialpolitischen Verhältnisse in der gewesenen sozialistischen wie in der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaft zu berücksichtigen erklärt, verblüfft das Fehlen einer ganzen Reihe von Stichworten, in denen die philosophische Relevanz lebenswichtiger und noch dazu brandheißer Vorgänge zu erörtern gewesen wäre, wie etwa: Antifaschismus, Antisemitismus, Arbeitslosigkeit, Asyl, Feminismus, Globalisierung, Herrschaft/Weltherrschaft, Justiz/Klassenjustiz, Legalität/Legitimität, Rechtsstaat, Totalitarismus, Transformation, Verfremdung, Vorurteil, Widerstandsrecht. Dass diese wie weitere Lemmata schon in der Vorgängerpublikation von 1985 unberücksichtigt geblieben waren, rechtfertigt die jetzige Zurückhaltung gegenüber diesen weltanschaulich brisanten Tatsächlichkeiten von gestern und heute jedenfalls nicht. Vielleicht werden sie in einer Zweitauflage berücksichtigt.

Dahingegen beeindrucken außerordentlich die 30 für die Basiskategorien des dialektischen und historischen Materialismus genutzten Seiten sowie - mehr noch - die 90 Seiten, auf denen in jeweils selbstständigen Stichworten Marxismus, Leninismus, Stalinismus und Sozialismus/Kommunismus abgehandelt werden. Nicht die sogenannte »Friedliche Revolution« von 1989/90, bei der es sich in Wahrheit um eine Konterrevolution aus vorwiegend inneren, mit allerdings von außen vorangetriebenen Ursachen gehandelt habe, sondern das Schicksal der realexistierenden Sozialismen lasse es für Marxisten erforderlich werden, die zweifellos noch virulenten Elemente des Stalinismus in Theorie und Praxis restlos zu beseitigen. Die Sozialismus/Kommunismus-Theorie sei eben nicht nur durch Stalin, sondern auch durch die Nachfolgenden, im sogenannten »Marxismus-Leninismus«, entstellt worden. Folglich bleibt als Aufgabe, Ursachen wie begünstigende Bedingungen zu erforschen, die zur ernsthaften Krise des Marxismus führten. Die Gründe für den Nieder- und Untergang des Realsozialismus lägen nicht in der Theorie des Marxismus, sondern eher in der Missachtung seiner fundamentalen Erkenntnisse.

Man kann dieses Wörterbuch als Diskussionsangebot zur notwendigen Erneuerung einer genuin marxistischen Theorie verstehen. Es wäre unklug, das Angebot auszuschlagen, auch wenn mancher im Detail einer ganz anderen Meinung sein dürfte.

Alfred Kosing: Marxistisches Wörterbuch der Philosophie. Verlag am Park. 865 S., br., 39,99 €.

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