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»Ich bin wie Gott«

Yasmina Khadra gelingt eine Rückschau auf ein atemberaubendes Stück arabische Geschichte

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 4 Min.

»Ich sterbe als Märtyrer und gehe als Neugeborener in die Legende ein. Ich bin kein Rais mehr, sondern ein Prophet: Stirb und werde - ich werde in künftigen Zeiten höher hinaufwachsen als jeder Berg.« - Vielleicht ist das der Kernsatz des Buches über den libyschen »Rais«. Ein Solcher - sprich ra'is - bezeichnet in der arabischen Welt einen Führer oder den Chef eines Clans, heutzutage auch einen Präsidenten. Es ist ein ehrenhafter Titel.


Yasmina Khadra: Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi.
Roman. A. d. Franz. v. Regina Keil-Sagawe. Osburg Verlag. 180 S., geb., 20 €.


Ob Muammar al-Gaddafi in seinen vermeintlich letzten Worten tatsächlich von sich als Ra'is gesprochen hat? Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, dass Gaddafi eigentlich alle herkömmlichen Bezeichnungen für eine Staatsstruktur verachtete. Sein Libyen war keine Republik, sondern - schwer übersetzbar - eine Art Staat der Volksmassen, und er selbst nannte sich nicht Präsident, sondern Revolutionsführer.

Sei’s drum. Der Autor macht glaubhaft, dass er versucht hat, tief ins Ich Gaddafis einzudringen und wird seine Worte nicht grundlos gewählt haben. Von Übersetzerin Regina Keil-Sagawe ist das nicht weniger anzunehmen. Yasmina Khadra, der eigentlich Mohammed Moulessehoul heißt und aus dem Nachbarland Algerien stammt, weiß wohl, dass Gaddafis Revolution auch eine war. Aber er ist nicht Historiker, sondern Schriftsteller, und nach der Lektüre dieses Büchleins möchte man ihn noch lieber Dichter nennen. Er lässt den Leser - ohne es mit Worten einzugestehen - von Anfang an nicht im Unklaren, dass es bei ihm um Fiktives geht. Er bietet seine Rückschau auf ein atemberaubendes Stück arabische Geschichte an. Es ist dann nicht mehr wichtig, ob er Verbürgtes seines Helden mitteilt oder nicht. Sein Bild von Gaddafi ist mehr Präsentation einer Kunstfigur als Biografie einer realen Person. Steckt darin am Ende mehr Khadra als Gaddafi? Warum nicht? Auch Fausts letzte Worte sind allein die Goethes, und keiner fragt. Was er als wahrhaftig ansieht, entscheidet der Leser.

Fürs Lesevergnügen ist Khadras fiktiver Report sicher eine geeignete Form, sich der Person Gaddafi zu nähern. Spätestens hier enden alle Parallelen zu Faust, denn »Bruder Oberst«, wie er sich gern nennen ließ, nahm ein schlimmes Ende, wurde auf grässliche Weise zu Tode massakriert. Khadra schildert die letzten Tage und Stunden in der Ich-Form; versucht nachzuempfinden, was Gaddafis Gedanken gewesen sein mögen. Da sehen wir einen selbstverliebten Führer, der auch angesichts der Übermacht und Unerbittlichkeit seiner Feinde jegliche Reue verachtet. Im Gegenteil: »Libyen verdankt mir alles«, lässt Khadra Gaddafi räsonieren. »Wenn das Land heute in Rauch aufgeht, dann, weil es meiner Güte nicht würdig ist.« Und: »Ich bin wie Gott: Die Welt, die ich einst erschuf, wendet sich gegen mich.«

Alle, die er in über 40 Jahren Herrschaft in den Staub trat, und das waren nicht wenige, und Pardon ward nie gegeben, müssen nach dieser Selbsterhöhung keine Skrupel haben, ihn zu verdammen. Kannte er gar keine Selbstzweifel, Schwäche, Angst? Doch, ein wenig, meint Khadra wohl, indem er ihn sagen lässt: »Hat dieses Volk mich je geliebt? Oder war es nur der Spiegel, in dem mir mein eigener grenzenloser Narzissmus entgegenschlug?« Und sogar Wehmut: »Hätte ich nur auf Hugo Chávez gehört, der mir seine Protektion anbot; dann säße ich jetzt irgendwo in Venezuela und könnte mir noch ein paar geruhsame Jährchen machen, statt in einer dunklen Betonröhre auf meine Henker zu warten. Wie konnte ich nur derart dumm sein?« Doch ehe der Gedanke Raum greifen kann, der Ra'is fühlte vielleicht doch wie ein gewöhnlich Sterblicher mit auch kleinmütigen Momenten, wird dies vom Tisch gewischt: »Ich bereue nicht, hart durchgegriffen zu haben. Das war legitim und notwendig.«

Khadra bietet bis zur letzten Seite spannende Lektüre. Man weiß danach sehr viel über den Sohn eines Beduinen, der als Offizier mit 27 (!) seinen König stürzte, halb Afrika beschenkte, von seinen kühnen sozialen Ideen ebenso wie von seinem schwer erträglichen Hochmut, seinem antidiplomatischen Regierungsstil, den absurden Grausamkeiten und der entwaffnenden Generosität. Der Leser mag selbst entscheiden, welche Charakterzüge und Taten dieses ungewöhnlichen Menschen ihm als die dominierenden erscheinen.

Es hätte also kaum des belehrenden PC-durchtränkten Klappentextes bedurft, der den Leser im Vorhinein darauf festnagelt, dass es sich hier um »einen der größten Diktatoren der jüngsten Geschichte« handelt und keinesfalls »um eine Solidaritätsbekundung mit einem Tyrannen«. Möge man sich doch an Marquis von Posas Wort in Schillers »Don Carlos« erinnern: »Sire, Geben Sie Gedankenfreiheit!«

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