Warme Worte gegen kalte Politik

Armutsdebatte als »Interessenpolitik« - ein neues Buch zeigt Alternativen dazu

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 3 Min.
Forscher wenden sich erstmals gemeinsam gegen »neoliberale Mythen« bei der Interpretation des Themas Armut. In einem neuen Buch beschreiben sie den Kampf um die Deutungshoheit.

Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, besuchte kürzlich eine Veranstaltung in Kiel. Die Rede des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Torsten Albig (SPD) machte ihn »stutzig«: Er vernahm Wörter, die er seit Jahren nicht mehr gehört habe, »wenn es um Sozialpolitik ging«. Man müsse sich, hatte Albig gesagt, den Flüchtlingen »zuwenden«, sich um sie »kümmern«, auf sie »aufpassen«; sogar das Wort »behüten« nahm er in den Mund.

»Es waren Begriffe wie aus alten Zeiten, warme Begriffe«, schreibt Schneider im Vorwort des von ihm herausgegebenen Bandes »Kampf um die Armut«, der gerade erschienen ist: »Es war eine Sprache, die man uns doch eigentlich längst ausgetrieben hatte, da sie angeblich nicht mehr in den Zeitgeist passen sollte.« Statt dessen sei heute meist von Aktivierung, Befähigung, Vermittlung oder Fallmanagement die Rede. Gerade deshalb, so Schneider, sei Albigs Rede »ein unterschwelliges Statement« gewesen, »ein subtiles Aufbegehren gegen das neoliberale Neusprech«.

Armut ist ein emotional aufgeladener Begriff, um den, so die These des Buches, »ein erbitterter Kampf« geführt wird. Zugespitzt hat sich dieser seit dem Frühjahr, als der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Jahresbericht zum Thema veröffentlichte - und eine Welle von Entgegnungen auslöste. Die Autoren schrieben von Zerrbildern, Etikettenschwindel und statistischen Winkelzügen. Unter dem Motto »Schaut nach Kalkutta!« monierten sie, wie die Armut nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Europäischen Union und der OECD seit langem berechnet wird: Wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, gilt demnach als bedürftig.

»Neu war die Aggressivität, der Furor, mit dem wir kritisiert wurden«, resümierte Schneider am Mittwoch bei der Vorstellung des Buches in Köln. Das Ziel der Kommentare sei ein Kleinrechnen des Problems, die Rückkehr zu einem »mittelalterlichen Armutsbegriff, reduziert auf echtes Elend«. Nur vordergründig gehe es um Definitionen und wissenschaftliche Methoden, im Kern jedoch um »knallharte Interessenpolitik«, sind sich die Autoren einig.

Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaft in Köln, beschreibt in seinem Beitrag »Verdrängungsmechanismen, Beschönigungsversuche und Entsorgungstechniken«. Sein Koautor Stefan Sell plädiert für eine erweiterte Forschung, wie sie etwa Wissenschaftler in den USA und Großbritannien vermehrt betreiben. Das Skandalisieren von Armut, so der Volkswirt, sollte man mit einer explizit ökonomischen Kritik an sozialer Ungleichheit verbinden.

Der katholische Sozialethiker und Jesuit Friedhelm Hengsbach beschreibt in seinem Beitrag das »Versagen der politischen Klasse, den gesellschaftlichen Reichtum gerecht zu verteilen«. Er liefert einen ganzheitlichen Blick, fordert faire Verhältnisse in der Erwerbsarbeit, beim Vermögen, in den Geschlechterbeziehungen und beim Gewicht von bezahlter und unbezahlter Arbeit. Rudolf Martens schließlich, Leiter der Paritätischen Forschungsstelle, berichtet praxisorientiert über die immer größere Zahl der Tafeln, die rund eine Million Menschen mit dem Notwendigsten versorgen.

Das Buch fasst zusammen, warum Ausgrenzung geleugnet wird und die Berichterstattung darüber unter Druck geraten ist. Die Flüchtlingsdebatte konnte man nur im Vorwort berücksichtigen. Die »warmen Begriffe«, die Schneider in Albigs Ansprache über Einwanderer auffielen, sollten demzufolge für alle Bedürftigen gelten - als Signal gegen die kalte Sprache des Neoliberalismus.

Ulrich Schneider (Hg.): Kampf um die Armut. Von echten Nöten und neoliberalen Mythen, Westend Verlag, Frankfurt 2015, 208 Seiten, 14,99 Euro.

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