Ohne Turnschuhe

Tom Strohschneider über ein Jahr Bodo Ramelow als Ministerpräsident und eine Regierungsbeteiligung, die die Linkspartei verändert

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor fast 30 Jahren trat ein gewisser Joseph Fischer im hessischen Landtag nach vorn und ließ sich in weißen Turnschuhen als Staatsminister für Umwelt und Energie vereidigen. Der erste Minister der Grünen, die sich fünf Jahre zuvor als »grundlegende Alternative« zu den Etablierten auf den Weg gemacht hatten, um für produktive Unruhe und Widerspruch im Parteiensystem zu sorgen, blieb nicht lange im Amt.

Die Regierungsbeteiligung in Hessen galt manchem später als der Sündenfall, welcher Normalisierung und Anpassung der Partei beschleunigt habe. Besagter Herr Fischer, der seine weißen Sporttreter bald schon gegen schwarze Halbschuhe eintauschte, sollte dabei eine treibende Rolle spielen. Die Grünen sind zu einer Scharnierpartei zwischen sozialdemokratischem und konservativem Lager geworden. Als »grundlegende Alternative« wie im Gründungsprogramm von 1980 würden sich wohl nur noch die wenigsten ihrer Abgeordneten betrachten.

Vor einem Jahr wurde Bodo Ramelow im Thüringer Landtag mit 46 von 91 Stimmen zum ersten Ministerpräsidenten der Linkspartei gewählt. Turnschuhe trug er nicht - es war noch nie die Art des Gewerkschafters aus Niedersachsen, einem letzten Endes bloß symbolischen Antieffekt Bedeutung beizumessen. Und doch liegt es nicht fern, beim Erfurter Regierungschef auch an den Grünen aus Hessen zu denken.

Mindestens ist das persönliche Gewicht vergleichbar, dass ihm nun in der LINKEN zukommt - Ramelow ist derzeit das unangefochtene Alphatier der Partei. Abgesehen davon, dass der 59-Jährige diese Rolle ganz gern annimmt: Seine Regierung drückt der Linkspartei strategisch einen Stempel auf. Die vor einem Jahr in Thüringen begonnene Koalition ist nicht nur Ergebnis der Veränderung der Partei - sondern auch ein Schrittmacher dafür.

Darin liegt natürlich auch eine Gefahr - die nämlich, vor lauter den Umständen angepasster Orientierung auf die Gestaltung des Bestehenden ein anderes Ziel zur Programmfolklore herabzuwürdigen: die Überwindung jener Gründe, die für einen Ministerpräsidenten Ramelow die Spielräume klein halten.

Das ist eine Frage der bundespolitischen, mehr noch: der europäischen Wirksamkeit linker Politik. Wenn vor einem Jahr die Rede davon war, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen »alle kommenden Wahlen spannender« machen und die Union »ihr Abo auf die Macht« verlieren werde, stellte sich das als übertriebene Hoffnung heraus. Konnte man das damals schon wissen? Vielleicht.

Aber so, wie die Linkspartei in die Landesregierung eintrat ohne ahnen zu können, in welcher Dimension die menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten zu ihrer schwierigsten Aufgabe werden würde, so sind wichtige Gründe für die Unmöglichkeit einer nahen Mitte-Links-Option auf Bundesebene erst danach eingetreten: die Politik der SPD gegen die SYRIZA-geführte Regierung etwa, ihr neuer Kurs in der Eurokrise, ihr Agieren als Handlanger der Asylrechtsverschärfungen der Union. Da kann das rot-rot-grüne Signal von Erfurt noch so hell leuchten, eine Bundesoption gibt es derzeit nicht.

Politik ist Handeln im Jetzt unter Bedingungen, die man sich oft nicht selbst wählen kann. Als vor einem Jahr Rot-Rot-Grün den Koalitionsvertrag schloss, sorgten Themen für das lauteste öffentliche und innerparteiliche Echo (»Unrechtsstaat«), die bald danach von ganz anderen praktischen Herausforderungen überrollt wurden. Daran ist die Koalition nun zu messen. Trotz knappster Mehrheit ist das Bündnis stabil, was Streit nicht ausschließt - zum Glück. Trotz einer finanziell angespannten Lage und großem Druck von ganz Rechts macht Thüringen in der Flüchtlingspolitik einen Unterschied - was in Zeiten der übergroßen Koalition der Asylrechtsverschärfer wichtig ist.

Dennoch bleibt Thüringen ein linksreformerisches Experiment, dessen Ausgang und Wirkung man noch nicht absehen kann. Vor einem Jahr war an dieser Stelle von einem »Geist von Erfurt« die Rede: eine Haltung, die Widersprüche nicht deckelt, die Lust auf neue Fragen hat, die im Dissens einen Antreiber für bessere Gedanken sieht, die die eigenen Begrenzungen offensiv politisiert und die offen ist gegenüber einer Gesellschaft, in der linke Veränderung derzeit nicht ganz oben auf der Liste der Wünsche vieler Bürger steht. Diese Herausforderung bleibt. Denn produktive Unruhe und Widerspruch im Parteiensystem bleiben nötig - nicht nur aus der Opposition heraus.

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