Vom RGW zum Washington Consensus

Dreischritt aus Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung: Der Wiener Historiker Philipp Ther legt die erste Monographie über den Siegeszug des Neoliberalismus in Ost- und Mitteleuropa nach 1989 vor

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 3 Min.

Weit entfernt und zunächst unabhängig voneinander kulminierten im Epochenjahr 1989 zwei Entwicklungen, die die Zukunft Europas prägen sollten: Während die Regimes der ost- und mitteleuropäischen Mitgliedsstaaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) im Angesicht oppositioneller Massenbewegungen und vor dem Hintergrund immer weniger konkurrenzfähiger Ökonomien und einer zunehmenden Auslandsverschuldung zusammenbrachen wie die sprichwörtlichen Kartenhäuser, wurde jenseits des Atlantik von dem Ökonomen John Williamson im Auftrag von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) mit dem Washington Consensus die Hegemonie des Neoliberalismus auf globaler Ebene festgeschrieben. Mochten viele Bürgerrechtler auch noch von einer »Verbindung zwischen der Marktwirtschaft und den sozialstaatlichen Errungenschaften ihrer Länder« geträumt haben, so sei doch damit fast zwangsläufig der Boden bereitet worden, »dass die Revolutionen von 1989-1991 ein neoliberales Ende nehmen würden«, zeigt der Wiener Historiker Philipp Ther in seiner gerade erschienenen »Geschichte des neoliberalen Europa«, die nun erstmalig zusammenhängend diese Entwicklung nachzeichnet.

Neu war der Dreischritt aus Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung 1989 nicht. Schon seit gut einem Jahrzehnt hatte dieses marktradikale Heilsversprechen die Praxis nicht nur der Strukturanpassungsprogramme der beiden Institutionen, sondern auch die Wirtschaftspolitik vor allem in den USA Ronald Reagans und in Margaret Thatchers Großbritannien geprägt. Nun aber gab es kein Entrinnen mehr, wollte ein Staat privates Kapital oder gar Stützungskredite vom IWF erhalten. Und beides war in den zusammenbrechenden Ökonomien des ehemaligen Ostblocks unverzichtbar. Die von Václav Klaus in Tschechien und Leszek Balcerowicz in Polen verordneten »Schocktherapien« (Naomi Klein), die weitgehende Deindustrialisierung in Ostdeutschland und der neue Oligarchenkapitalismus in den Nachfolgestaaten der UdSSR hatten allesamt hier ihren Ursprung. Jacek Kuron, ehemaliger Dissident und nach 1989 selbst Sozial- und Arbeitsminister, hat rückblickend für die Transformationen der Jahre 1989 bis 1991 dafür den Begriff der »sich selbst einschränkenden Revolution« gewählt, weil es schlicht an Alternativen zu dem eingeschlagenen Weg gemangelt habe.

Unterlegt mit einer Fülle an statistischem Material zeichnet Ther in zehn Kapiteln die weitere Entwicklung des Siegeszuges dieser »neuen Ordnung auf dem alten Kontinent« und ihre Folgen nach. Einem funkelnden Expresszug gleich, dessen Sog der Standortkonkurrenz sich letztlich kein Land, auch nicht in Westeuropa, habe entziehen können, sei der Neoliberalismus durch Europa gerast. Im Speisewagen aber habe es nur Einheitskost und die Macht der westlichen Berater gegeben, »die jederzeit die Schulden einfordern konnten und die ökonomische Weisheit gepachtet hatten.« Einen teilweisen Ausstieg aus diesem Programm, durch das breite Teile der Bevölkerungen vor allem auf dem Land zunächst dramatisch verarmten oder massenhaft zur Emigration gezwungen wurden – Ther verweist darauf, dass allein aus Rumänien seit 1990 4,2 Millionen Menschen und aus Litauen gar ein Fünftel der Bevölkerung ausgewandert seien –, gab es erst nach wirtschaftlichen Aufschwüngen und vor allem durch Finanzspritzen aus dem EU-Kohäsionsfonds, die wieder kleinere Verteilungsspielräume brachten.

Ther, weit entfernt davon ein allzu radikaler Kritiker der »neuen Ordnung« sein zu wollen, sieht darin auch die eigentlich positive Perspektive, die gelegentlich an die Aussagen neoliberaler Theoretiker erinnert, dass eine Volkswirtschaft erst durch das Tal der Tränen müsste, bevor eine breitere Verteilung des Wohlstandes möglich würde. Vor allem am polnischen Beispiel versucht er diese positiven Ergebnisse einer Pendelbewegung zu verdeutlichen, die er insbesondere auch für die südeuropäischen Krisenländer empfiehlt. Angesichts seines Fazits erscheint dies allerdings als wenig attraktiv: »Die Diskrepanz zwischen Wohlstand und Armut, Aufschwung und Stillstand, Stadt und Land ist kein Spezifikum des ehemaligen Ostblocks mehr. Wachsende regionale und soziale Unterschiede prägen Europa in West und Ost.«

Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa; Berlin 2014; Suhrkamp Verlag; 432 S.; 26,95€.

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