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Lieber krank als noch ein Mädchen

In kaum einem Land werden so viele weibliche Föten abgetrieben wie in Vietnam - Forscher warnen vor weitreichenden Folgen

  • Scott Harris und Bac Pham, Hanoi
  • Lesedauer: 4 Min.
Viele Frauen in Vietnam wollen keine Mädchen zur Welt bringen. Das wird in dem südostasiatischen Staat zu einem Männerüberschuss führen, der künftig Prostitution und Frauenhandel begünstigen könnte.

Huyen wartet auf einen Satz, der scheinbar harmlos klingt. Die 29-jährige Vietnamesin ist im vierten Monat schwanger. Nun sitzt sie in der Geburtsklinik von Hanoi und fürchtet, dass der Arzt auf das Ultraschallbild schaut und sagt: »Kommt ganz nach der Mutter.« Es ist ein Codewort, das für manche das Leben bedeutet und für andere den Tod.

In kaum einem Land werden so viele Föten abgetrieben wie in Vietnam. Laut Gesundheitsministerium kommt auf fünf Geburten eine Abtreibung. Und das ist noch die vorsichtigste Schätzung; Verbände sprechen von bis zu einer Abtreibung auf eine Geburt. Die weitaus meisten der getöteten Embryonen sind weiblich.

Doch Abtreibung nach Geschlecht ist in dem südostasiatischen Staat illegal. Ärzte und Pfleger in Vietnam dürfen das Geschlecht eines Kindes nicht nennen, solange die Frau noch legal abtreiben darf. Deshalb sprechen sie von einem »Vogel«, wenn es ein Junge wird, und reden von »Schmetterlingen«, wenn sie Mädchen meinen. Auch Huyen hat schon zweimal abgetrieben - aus Angst, noch ein Mädchen zu gebären. Zwei Töchter hat sie schon. Wie so viele hofft Huyen auf einen Jungen. Einen, der als Stammhalter gilt in einem Land, das bald einen problematischen Männerüberschuss haben wird.

»Unsere Söhne werden es schwer haben, eine Frau zu finden«, prophezeit Khuat Thu Hong, Leiterin des Instituts für gesellschaftliche Entwicklung in der Hauptstadt Hanoi. 2014 wurden pro 100 Mädchen 112,4 Jungen geboren. In manchen Gegenden kommen sogar fünf Jungen auf vier Mädchen. »Das Land wird bald soziale Probleme bekommen, zum Beispiel Prostitution und Frauenhandel.« Nach altem konfuzianischen Brauch sollen Frauen dem Mann bedingungslos gehorsam sein. Dieses Erbe haben zwar viele Frauen in Vietnam hinter sich gelassen - aber nicht alle Männer. Mädchen sind deshalb in der Gesellschaft immer noch weniger wert.

Was passiert, wenn sich medizinischer Fortschritt und patriarchale Traditionen vereinen, kann man nicht nur in Vietnam sehen. Auch in China und Indien wird das Ungleichgewicht zwischen Mädchen- und Jungengeburten größer. Auf 1000 Jungen kamen auf dem indischen Subkontinent zuletzt nur noch 919 Mädchen. Das liegt nicht nur an Hunderttausenden Abtreibungen, sondern auch daran, dass Mädchen oft weniger zu essen bekommen und seltener zum Arzt gebracht werden.

Indiens Familienminister Jagat Prakash Nadda nannte Anfang des Jahres im Parlament gleich eine ganze Reihe von Gründen dafür: »Es ist der Glaube daran, dass nur der Sohn die letzte Ölung vollziehen kann, dass Abstammung und Erbschaft der männlichen Linie folgen, dass Söhne im Alter sich um ihre Eltern kümmern und die Brotverdiener sind.« Für Töchter hingegen müsse oft eine hohe Mitgift gezahlt werden.

Auch die Vietnamesin Pham Thu Hien kennt die Ursachen für dieses Phänomen. Sie arbeitet beim UN-Bevölkerungsfonds und praktizierte jahrelang als Frauenärztin. »Einige Männer haben das Gefühl, sie wären keine richtigen Männer, wenn sie keine Söhne zeugen«, sagt Hien, die selbst Mutter zweier Töchter ist.

Die Schwangeren würden sich nach dem Wunsch der Ehemänner richten und um eine Abtreibung bitten, ohne dabei auf das Geschlecht des Kindes zu verweisen. »Sie behaupten dann, sie seien zu arm oder könnten es sich nicht leisten. Nur die Wahrheit sagen sie nicht - weil sie wissen, dass es falsch ist, was sie tun.«

Die vietnamesische Regierung versucht derweil, die Entwicklung noch aufzuhalten. Die lange gültige Zwei-Kind-Politik für Beamte soll aufgehoben werden, spezielle Versicherungen und Stipendien für Mädchen werden bereits diskutiert. Auch die chinesische Führung hat die Ein-Kind-Politik im Oktober beendet, unter anderem wohl, um den Männerüberschuss zu mindern.

Als Huyen aus dem Behandlungszimmer kommt, sieht sie bedrückt aus. »Es ist ein Schmetterling«, sagt sie. »Mein Mann wird nicht erfreut sein.« Der Arzt habe sie gewarnt, eine dritte Abtreibung könnte ihrem Körper schaden. »Aber ich hätte lieber gesundheitliche Probleme als noch ein Mädchen.« dpa

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