Er, und wieder nur er

Der Historiker Peter Longerich meint: Hitler war’s!

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 5 Min.

Ja, schon wieder erschien ein dickleibiges Buch über Hitler. Verfasst hat es Peter Longerich, seit 2013 tätig an der Bundeswehr-Universität in München. Wer lediglich nachschlagen will, wann was der »Führer« geredet, geschrieben, entschieden, befohlen hat oder wohin er gereist ist, der wird hier bedient. Alles ist penibel erfasst und ausführlich dargestellt - und doch gibt es bemerkenswerte Lücken.

Natürlich wird auch für dieses Buch geworben, wie es das Verlagsgeschäft nun einmal verlangt. Es setze neue Maßstäbe und enthalte, so heißt es, einen »neuen Blick auf Hitlers Herrschaft und seine Rolle in der Geschichte des Nationalsozialismus«. Neu ist jedoch weder die Tatsache, dass Hitler bis 1919 ein »Niemand« war, noch die interessengeleitete Förderung des angehenden Politikers durch die Reichswehr (wobei Longerich vornehm formuliert, Hitler habe »unter« deren Schutz gestanden). Neu ist ebenso wenig der Versuch, Hitler für die Jahre zwischen 1930 und 1933 als die zentrale Figur darzustellen, ganz nach dem Motto: Machtergreifung durch ihn statt Machtübertragung an ihn. Hitler sei weder von einer Massenbewegung noch von einer konservativen Camarilla, die ihn instrumentalisieren wollte, ins Kanzleramt getragen worden. Wolle man seinen Weg erklären, so Longerich, müsse »das Moment von Hitlers persönlichem Handeln ins Zentrum gerückt werden«.

Berechtigt wird als neu herausgestellt, Hitler sei im »politischen Tagesgeschäft« aktiver als bisher angenommen tätig und ein »Kontrollfreak« gewesen. Alles andere ist lediglich als eine ausführliche Neuauflage des alten Mottos: Hitler war’s. Er allein! Ohne ihn keine Diktatur, kein Krieg, kein Holocaust. Longerichs Buch ist eine »One-Man-Show«, ließ ein Kritiker im konservativen Blatt »Die Welt« (6.11.) verlauten.

Verständlich, dass da die Auffassungen anderer Autoren sehr kurz und mitunter wenig schmeichelhaft abgetan werden. Beispielsweise führt Longerich gegen die These von Martin Broszat über den »Faktor Hitler« das Argument an, man dürfe Hitler nicht nur als »Katalysator« oder »Medium« historischer Prozesse darstellen, die »unabhängig von seiner Person existierten«. Ebenso dürfe man nicht, wie dies Ian Kershaw »strukturalistisch« getan habe, Hitler primär mit dem Verweis auf gesellschaftliche Kräfte sowie das Bedingungsgefüge des NS-Herrschaftssystems erklären. Es lauere die Gefahr (sic!), dass Hitler als handelnde Person verloren gehe, würden die »historischen Umstände und Bedingungen« umfassend erläutert. Dies führe dazu, »Hitler in seiner historischen Bedeutung zu marginalisieren und seine persönliche Verantwortung in einem historischen Prozess verschwinden zu lassen«. Kurzerhand fordert Longerich auch, sich endgültig von Hans Mommsens Bild des »schwachen Diktators« zu verabschieden. Eine Auseinandersetzung mit Publikationen marxistischer Historiker über Hitler und die Geschichte des deutschen Faschismus findet gleich gar nicht statt.

Berührt Longerich strittige Fragen der Deutung (z. B. zu den Ursachen des Reichstagsbrandes, zur Relation innen- und außenpolitischer Motive u. ä. m.), rettet er sich mehrfach in die Aussage, sie seien ohne Belang oder zweitrangig, da eh angenommen werden dürfe, alles sei von Hitler entschieden worden. Nach seiner Auffassung sind entscheidende Weichenstellungen in Hitlers Politik nicht auf äußere Zwangslagen und strukturelle Bedingungen zurückzuführen, sondern auf Entscheidungen, die »er gegen Widerstände und erhebliche retardierende Elemente durchgesetzt« habe. Alles dank seiner Fähigkeit, »außerordentlich komplexe Situationen durch geschicktes, flexibles und (nach längerem Zögern dann doch) entschlossenes politisches Handeln neu zu ordnen; dies ... mithilfe eines Herrschaftsinstrumentariums, das auf die Durchführung seiner Politik hin gestaltet und abgestimmt war.«

Der Band dient, das soll hier nicht verkannt werden, einer sachlich (frei auch von sonst üblichen antikommunistischen Vorwürfen) gehaltenen Vermittlung von Kenntnissen. Er offenbart indessen zugleich eine arg beschränkende Erkenntnisabstinenz zu Gunsten der These, Hitler habe sich selbst einen enormen Handlungsspielraum, ja sogar eine »Handlungsautonomie« verschafft: »Er war in der Lage, über Krieg oder Frieden zu entscheiden, er legte die Grundlagen für die ›Neuordnung‹ des europäischen Kontinents nach eigenem Gutdünken fest, er entschied über Genozid und andere Massenmorde willkürlich aufgrund ›rassischer‹ Gesichtspunkte.« Hitler sei weniger ein Programmatiker oder Ideologe als vielmehr ein primär skrupelloser und aktiver Politiker gewesen. Auch hätten sein Charisma und die ihm zugeschriebenen übermenschlichen Fähigkeiten nicht jene Rolle gespielt, die oftmals als Erklärung der enthusiastischen Zustimmung großer Teile der Deutschen herhalten müssten. In diesem Zusammenhang wird berechtigt auf die Tatsache verwiesen, dass es zwischen 1933 und 1945 keine in sich geschlossene »Volksgemeinschaft« gab, wie die zeitgenössische Propaganda glauben machen und damit eine »ausgeklügelte Herrschaftstechnik« verdecken wollte.

Natürlich werden historische Voraussetzungen und Bedingungen erwähnt. Insbesondere sei die Existenz einer »rechtsextremen Massenbewegung als Reaktion auf die Kriegsniederlage, Revolution und den Versailler Vertrag, auf die Weltwirtschaftskrise und das Versagen der Demokratie« bedeutsam gewesen, schreibt Longerich. Doch beiläufig und nur für die 1920er Jahre wird die Rolle der deutschen Eliten erwähnt, überdies lückenhaft. Da fehlt z. B. die Denkschrift Hitlers aus dem Jahre 1927, die der Großindustrielle Emil Kirdorf von ihm verlangt hatte und die er unter seinesgleichen verbreiten ließ. Nicht erst in den Jahren der Weltwirtschaftskrise wollten zahlreiche Wirtschaftsbosse mehr über die neue Bewegung erfahren und sie für die Durchsetzung eigener politischer Ambitionen nutzen. Merkwürdig auch, dass Longerich die wegweisende Denkschrift des Reichsverbandes der Deutschen Industrie vom Herbst 1929 mit dem suggestiv Alternativlosigkeit vortäuschenden Titel »Aufstieg oder Niedergang?« nicht einmal erwähnt. Ebenso fehlt die bekannte Eingabe von Industriellen und Großagrariern an Hindenburg vom November 1932, in der die Einsetzung Hitlers als Reichskanzler gefordert worden ist. Die Begegnung führender Industrieller mit Hitler am 20. Februar 1933 ist Longerich nur sieben Zeilen wert.

Sicher trifft zu, dass jede Zeit und jede Generation sich ein neues Bild von der Geschichte macht, auch von Hitler. Es muss aber die Frage erlaubt sein, wem es dient, in Zeiten weltweiter Krisen und Kriege für den bislang schlimmsten aller Kriege lediglich eine einzige Person verantwortlich zu machen und Fragen nach gesellschaftlichen Verhältnissen und Interessen zu vernebeln.

Peter Longerich: Hitler. Biografie. Siedler Verlag, München 2015. 1296 S., geb., 39,99 €.

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