Profit vor Gesundheit

Lebensmittelbranche täuscht Verbraucher

  • Susanne Aigner
  • Lesedauer: 5 Min.
Kontrollen suggerieren, dass unsere Lebensmittel sicher sind. Doch in der Praxis sind Skandale und Rückrufaktionen an der Tagesordnung. Kein Wunder: Betrug ist für die Hersteller ein lohnendes Geschäft.

Laut dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) tragen viele Behörden und Institutionen dazu bei, »Lebensmittel sicherer zu machen«. Zuständig für die Überwachung sind die Bundesländer. Sie kontrollieren Unternehmen, Lager, Lebensmittelläden und Gastronomie vor Ort - regelmäßig und ohne Vorankündigung. Betriebe, die negativ aufgefallen sind, werden demnach häufiger überprüft. Dabei fehlt es nicht an guten Absichten und Strategiepapieren. Doch die Praxis sieht anders aus: Wo sich mit Betrug Geld verdienen lässt, wird es keine absolute Sicherheit geben.

Wie beim Futtermittelskandal 2010: Ein Legehennenbetrieb im Kreis Vechta hatte bei Eigenkontrollen erhöhte Dioxinwerte festgestellt, verursacht von einem norddeutschen Futtermittelhersteller, der belastete Fette untergemischt hatte. Was nach einem Versehen aussah, stellte sich als Absicht heraus. Daraufhin wurden außer der Firma auch 1000 Legehennen-, Schweine- und Putenmastbetriebe gesperrt. Drei Wochen später stellte sich heraus, dass mit Dioxin belastetes Schweinefleisch in den Handel gelangt war, größtenteils nach Polen und Tschechien. Tiere wurden getötet, Eier vernichtet. 2013 wurden Geschäftsführer und Prokurist wegen Betrugs in über 100 Fällen angeklagt. 2014 wurde der eine wegen Fahrlässigkeit zu 1000 Euro, der andere wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Lebensmittel- und Futterrecht zu 3000 Euro verurteilt. Ihr Verhalten galt als »Ordnungswidrigkeit«.

Damit schien der Fall erledigt. Bis im März 2015 ein Cloppenburger Legehennenhalter ein Futtermittelunternehmen in Vechta verklagte, weil es dioxinbelastetes Futter geliefert hatte. Der Landwirt konnte seine Eier zunächst nicht verkaufen, später verramschte er sie, so dass sie doch noch in den Handel gelangten. Der Futtermittelhersteller wurde auf Schadenersatz verklagt. Das üblicherweise geringe Strafmaß für solche Vergehen lädt Nachahmungstäter geradezu ein.

Nicht jeder Skandal gelangt an die breite Öffentlichkeit. So wurden schon Glassplitter in Nudelsoßen, Holzstückchen in Babynahrung oder Tropanalkaloide in Hirsebällchen gefunden. Ob Waffeln, Matjesfilets oder Bio-Sesammus - immer wieder werden Salmonellen gefunden. Im Februar rief der Discounter Aldi eine Sorte Basmatireis zurück, in dem Aflatoxine - giftige Schimmelpilze, die sich aufgrund feuchter Lagerung gebildet hatten - nachgewiesen worden waren. Die vietnamesischen Königsgarnelen von Netto könnten dagegen Abbauprodukte von Nitrofuran, einem krebserregenden Stoff, enthalten haben - der Discounter bat seine Kunden, das Produkt zurückzubringen.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer langen Liste auf der Website www.produktrueckrufe.de. Hier sind alle Funde seit 2009 - von Antibiotika- über Chloratrückstände bis hin zu Benzolderivaten - dokumentiert. Doch wie viele Fälle bleiben unentdeckt? Thilo Bode, Gründer der Verbraucherorganisation Foodwatch, kritisiert in seinem Buch »Abgespeist«: »Beim Einkaufen von Lebensmitteln und beim Essen werden wir systematisch getäuscht und betrogen. Wir werden gezielt desinformiert. Wir haben keine Wahl zwischen guten und schlechten Lebensmitteln.«

Die Täuschung beginnt bei der Kennzeichnung: »Natürliche« Aromen müssen zwar aus einem natürlichen Rohstoff stammen, aber nicht aus dem genannten. Das »natürliche« Erdbeeraroma im Joghurt wird aus Holzrinde destilliert. Gelatine in Gummibärchen wird aus Schlachtabfällen hergestellt. Etikettenschwindel begleitet uns auf Schritt und Tritt: Tütensuppe darf mit dem Etikett »Natur pur« versehen sein, ein Fruchtsaftkonzentrat trägt angeblich »zur gesunden Entwicklung des Kindes« bei, auch wenn die enthaltene Zitronensäure die Zähne schädigt. Auf jeder Milch darf stehen, dass sie von »artgerecht gehaltenen Tieren« stammt.

Glaubt man Bode, ist es für Lebensmittelhersteller lukrativ zu betrügen. Wer Gammelfleisch zu Gulasch verarbeitet, kann mit Gewinnspannen von bis zu 1000 Prozent rechnen. Das Risiko, erwischt zu werden, ist minimal, die Strafe lächerlich. Schon die Herstellung ist eng verzahnt mit der Agrochemie: Wird ein Pflanzenschutzmittel erlaubt, ist ein Verbot später kaum durchzusetzen.

So hatte die Internationale Agentur für Krebsforschung das Herbizid Glyphosat im März 2015 als wahrscheinlich krebserregend eingestuft. Doch das Bundesamt für Risikobewertung (BfR) fand, die Information sei »wissenschaftlich schlecht nachvollziehbar«. Die EU-Lebensmittelbehörde EFSA verließ sich auf die BfR und urteilte, es sei »unwahrscheinlich«, dass Glyphosat ein Krebsrisiko darstelle. Dass mit Wahrscheinlichkeiten jongliert wird, wäre allein ein triftiger Grund, Glyphosat vom Markt zu nehmen. Greenpeace kritisiert, die EFSA verlasse sich zu sehr auf nicht öffentliche Studien der Firmen. Die Behörde ist zuständig für Pestizidrückstände in Lebensmitteln, Zusatzstoffen, Genpflanzen und Verpackungen. Glaubt man einer Studie der lobbykritischen Organisation CEO, hatten bis vor kurzem 123 von 209 EFSA-Wissenschaftler mindestens eine Verbindung zur Industrie.

Was für die fehlende Sicherheit bei Lebensmitteln gilt, lässt sich auf andere Branchen übertragen. So hat die Kohlelobby gewaltigen Einfluss auf die Politik: Trotz massiver Proteste der Bevölkerung werden Landschaften nachhaltig zerstört, um Kohle abzubauen. Dabei werden neben CO2, Schwefeldioxid, Stickoxid und Feinstaub auch Arsen, Blei, Cadmium und Quecksilber freigesetzt. 70 Prozent der Quecksilberemissionen in Deutschland stammen aus Kohlekraftwerken.

Nun entschied eine »Technische Arbeitsgruppe« der EU-Kommission Anfang Juni 2015 unter Ausschluss der Öffentlichkeit über neue Grenzwerte. Unter den 255 Teilnehmern waren 170 Vertreter der Industrie, gerade mal acht kamen aus Umweltgruppen. Die ausgehandelten Werte waren dann auch ganz im Sinne der Kraftwerksbetreiber. In den USA gibt es längst moderne Anlagen, die Quecksilber aus Kraftwerksabgasen herausfiltern, europäische Firmen verweigern das aus Kostengründen.

Auch in Fischen reichert sich das Schwermetall an: So wurden Thunfisch und Blauer Marlin wegen überhöhter Werte aus dem Verkehr gezogen. Doch die EU beabsichtigt, die Grenzwerte zu erhöhen, um Fischereinationen wie Spanien nicht zu gefährden. Die Industrie legt ihre Grenzwerte selbst fest. Staatliche Kontrollen haben da höchstens Alibifunktion.

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