Nicht durch Ängste bremsen lassen

Die deutsch-italienische Politikerin Laura Garavini über die Bedeutung von Migrationsbewegungen und Lehren für die Zukunft der EU

  • Lesedauer: 6 Min.

Die Migrationsfrage und insbesondere der Umgang mit Flüchtlingen ist das derzeit umstrittenste Thema in der Europäischen Union. Wie sehr sehen Sie die Grundfesten der Freizügigkeit in Gefahr?
Die Freizügigkeit ist ein Herzstück Europas. Wir sollten sie nicht einschränken. Aber es gibt Ausnahmefälle, die im Schengen-Abkommen vorgesehen sind, die man einfach aufgrund der Terrorgefahr anwenden muss. Gleichzeitig müssen wir alles in unser Macht Stehende tun, um die Freizügigkeit zu schützen und die Möglichkeit, Sozialrechte in Anspruch zu nehmen. Wir müssen in Europa daran arbeiten, schrittweise in allen Ländern den Sozialstandard zu erhöhen. Das ist die Herausforderung für Europa.

Das hieße, sich nicht nur auf eine gemeinsame Asylpolitik, sondern auch auf eine darüber hinausgehende Migrationspolitik zu einigen. Viele EU-Staaten ziehen sich derzeit jedoch auf sich zurück. Es scheint, als ginge es nun vor allem darum, Errungenschaften wie die Freizügigkeit zu erhalten, statt die europäische Integration fortzusetzen.
Der größte Fehler, den wir jetzt machen könnten, wäre, in eine massive Renationalisierung zu rutschen. Europa bleibt nach wie vor der größte Erfolg unserer Generation. Und die Antwort kann nur mehr Europa sein. Klar sind es riesige Probleme, riesige Herausforderungen, die Europa bevorstehen. Aber wir dürfen uns nicht durch unsere Ängste bremsen lassen. Gerade jetzt ist Politik gefordert.

Laura Garavini

Laura Garavini, Jahrgang 1966, ist eine deutsch-italienische Politikerin. Die Politikwissenschaftlerin kam 1989 nach Deutschland und war zunächst an der Universität Kiel sowie als Italienischlehrerin für Migrantenkinder tätig. Seit der Wahl 2008 ist die Sozialdemokratin (Partito Democratico, PD) im italienischen Parlament Abgeordnete für den Wahlkreis Europa. Seit April 2014 ist sie Vorsitzende der deutsch-italienischen Parlamentariergruppe. Mit ihr sprach Katja Herzberg.
 

Deutschland und Italien sind Gründungsmitglieder der EU und pflegen seit Jahrzehnten eine intensive Beziehung, auch aufgrund des Anwerbeabkommens von 1955. Was kann Europa daraus lernen?
Beide Länder stehen heute für eine überzeugte pro-europäische Politik. Und das ist gar nicht selbstverständlich, wenn man die Entwicklungen anderer Länder, die auch zu den Gründern der EU gehören, beobachtet. Die Verbreitung des Rechtspopulismus ist eine Gefahr, die Europa derzeit droht. Die deutsch-italienischen Beziehungen zeigen, wie gut man bilaterale Beziehungen nutzen kann, um weiterhin für Europa zu werben und sich gemeinsam dafür einzusetzen, den Prozess der europäischen Integration voranzubringen.

60 Jahre Anwerbeabkommen bedeuten auch: Zehntausende Italiener und italienischstämmige Menschen leben in Deutschland. Wie geht es ihnen hierzulande?
Die Lage ist gut. Die Integration auf der sozialen und auch auf der wirtschaftlichen Seite hat funktioniert, wie Studien belegen. Die Italiener in Deutschland sind aber auch ein gutes Beispiel, um zu betonen, wie wichtig Integrationsmaßnahmen sind. Damals, nach Schließung des Anwerbeabkommens, wurde jahrelang nichts in Sachen Integration unternommen. Die Folgen sieht man bis heute.

Und zwar?
Die Kinder in der dritten und auch in der vierten Generation sind immer noch unterdurchschnittlich erfolgreich, sowohl an Schulen als auch bei Ausbildungsangeboten in Deutschland. Das liegt etwa daran, dass ihre Eltern nie die deutsche Sprache erlernt haben. Aus dieser Erfahrung müssen wir Konsequenzen ziehen und sehr viel in Integrationsmaßnahmen investieren, auch bei den jetzt ankommenden Flüchtlingen.

Die Italiener waren in Deutschland die erste große Zuwanderergruppe. Gibt es Unterschiede zu anderen Migrantencommunities?
Bei den Italienern hat es sich öfter um Migranten der einfachen Schichten gehandelt. Sie haben sich etwa kaum politisch engagiert. Das war bei anderen Nationalitäten anders, beispielsweise bei den Griechen. Viele von ihnen kamen eher aus politischen Gründen. Sie hatten einen höheren Bildungsgrad. Das hat sehr positive Folgen gehabt und ist auch einer der Gründe, warum es Unterschiede zwischen den Nationalitäten im Hinblick auf das Erfolgsniveau gibt.

Nun waren diese Anwerbeabkommen eine ganz gezielte wirtschaftspolitische Maßnahme. Heute kommen aber immer noch Italiener nach Deutschland, vor allem junge Menschen. Warum?
In der Tat erleben wir seit vier, fünf Jahren eine neue Migrationswelle auch von Seiten junger Italiener, die nicht nur aus dem Süden kommen, sondern auch aus Norditalien. Sie kommen nach Deutschland, weil sie Arbeit suchen, aber nicht nur deshalb. Es gibt auch gesellschaftlich-kulturelle Gründe, beispielsweise gehen viele aus der homosexuellen Community nach Berlin oder nach Köln, weil sie dort freier leben können. Und es ist klar, dass ins Ausland zu gehen, etwas ganz Wertvolles ist. Es ist eine Bereicherung nicht nur für die Persönlichkeit, sondern auch für das Land, das die Leute annimmt und genauso für das Land, aus dem die Leute weggehen - aber nur wenn die Migration keine Ausblutung von Talenten ist.

Genau solch ein »Braindrain« scheint sich aber derzeit aus dem Süden Europas zu vollziehen. Wie versucht die italienische Regierung das zu stoppen?
Wir versuchen die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, damit die Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Leben in Italien gegeben sind. Dafür arbeiten wir an einer ganzen Reihe von Reformen. Gleichzeitig machen wir Gesetze, die die Rückkehr unterstützen können. Beispielsweise indem wir Steueranreize für junge Menschen schaffen, die Erfahrungen in Europa gesammelt haben, zurückkehren und sich selbstständig machen.

Insbesondere die bereits beschlossene Arbeitsreform stand in Italien vonseiten einiger Gewerkschaften und Oppositionsparteien in der Kritik. Was macht sie so zuversichtlich, dass das Programm von Renzi funktionieren wird?
Wir sehen bereits die ersten Ergebnisse. Die Arbeitslosenquote ist gesunken von 13,2 auf 11,8 Prozent. Sie ist immer noch sehr hoch, aber es ist auch klar, dass man das nicht von heute auf morgen ändern kann. Dass die Reformen, die wir in Gang gesetzt haben, wirken, sieht man an weiteren Faktoren: In den vergangenen zwei Jahren sind knapp 400 000 Arbeitsplätze geschaffen worden. Das Bruttosozialprodukt steigt wieder, auch der Konsum und die Kredite. Gleichzeitig sind wir dabei, Gesetze zu schaffen, die mit dem Leben der Menschen zu tun haben, also in Sachen Zivilrechte. Das sind alles Maßnahmen, die erforderlich sind, um das Land selbst nicht nur interessanter zu machen, sondern eben geeigneter zu machen auch für die junge Generation.

Die Krise, die ja eine europaweite war und noch ist, wird nicht in Italien allein gelöst werden können. Ist die Zusammenarbeit in der EU hierbei ausreichend?
Europa kann sehr froh sein, dass wir mit der Regierung von Matteo Renzi konsequent eine pro-europäische Politik verfolgen und gleichzeitig mit Reformen daran arbeiten, dass das Land wieder auf die Beine kommt und dass wir die Vereinbarungen wie den Stabilitäts- und Fiskalpakt respektieren. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass alle Partner in Europa gleichberechtigt behandelt werden und die Interessen der Länder verteidigt werden, die unter der wirtschaftlichen Krise gelitten haben und teilweise immer noch leiden. Die südeuropäischen Länder haben sehr schwere Zeiten durchgemacht. Deswegen muss man jetzt über die Zukunft Europas reden und darüber, dass die südeuropäischen Länder einen größeren Einfluss bekommen. Dafür wirbt Italien auch bei Deutschland um Verständnis.

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