Ist Physik noch Wissenschaft?

Forscher streiten über den Nutzen von Konzepten, die wie die Stringtheorie oder das Multiversum ohne Aussicht auf experimentelle Bestätigung sind. Von Martin Koch

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Eine gute physikalische Theorie, schrieb Albert Einstein einmal, müsse nicht nur in sich vollkommen sein, sondern auch mit den Erfahrungstatsachen übereinstimmen. Andere berühmte Physiker äußerten sich ähnlich, wenngleich sie das, was Einstein »innere Vollkommenheit einer Theorie« nannte, oft unterschiedlich interpretierten. Manche bewunderten vor allem die der Theorie zugrunde liegende mathematische Struktur, andere die logische Einfachheit der Prämissen. Beim zweiten von Einstein angeführten Kriterium bestand hingegen kaum Dissens: Eine physikalische Theorie, die das Prädikat »wissenschaftlich« beansprucht, muss sich im Experiment bewähren.

Der Prozess der experimentellen Bestätigung erweist sich jedoch häufig als sehr schwierig und nimmt nicht selten lange Zeit in Anspruch. Man denke nur an das sogenannte Higgs-Teilchen, das mehrere Physiker, darunter der Brite Peter Higgs und der Belgier François Englert, bereits 1964 postuliert hatten, um die Existenz der Masse innerhalb des Standardmodells der Elementarteilchenphysik zu erklären. Erst knapp 50 Jahre später, im Juli 2012, wurde es nach vielen vergeblichen Versuchen am Large Hadron Collider (LHC) des Europäischen Kernforschungszentrums CERN bei Genf, dem stärksten Teilchenbeschleuniger der Welt, entdeckt. Ein Jahr darauf erhielten Higgs und Englert den Physiknobelpreis.

Bei anderen Theorien liegt deren experimentelle Bestätigung noch in weiter Ferne oder wird von manchen Physikern sogar als technisch unmöglich angesehen. Ein Kandidat hierfür ist die Stringtheorie, mit deren Hilfe eines der ehrgeizigsten Projekte der Physik erfolgreich zum Abschluss gebracht werden soll: die Vereinigung der vier fundamentalen Wechselwirkungen bzw. Naturkräfte. Dazu zählen der Elektromagnetismus, die starke und schwache Kraft sowie die Gravitation. Bisher ist es Physikern »nur« gelungen, die drei zuerst genannten Kräfte sowie alle bekannten Elementarteilchen im bereits erwähnten und empirisch hervorragend bestätigten Standardmodell der Teilchenphysik auf quantentheoretischer Grundlage zu beschreiben. Die Gravitation kommt darin nicht vor. Ihre Beschreibung erfolgt im Rahmen der von Einstein 1915 entwickelten allgemeinen Relativitätstheorie, die bis heute nicht mit der Quantentheorie vereinigt werden konnte.

Bei der Suche nach einer vereinheitlichten Quantengravitation setzen viele Physiker ihre Hoffnung ganz auf die Stringtheorie, die bereits in den 1970er Jahren in ihren Grundzügen entwickelt wurde. Während die herkömmliche Quantenphysik von punktförmigen, also nulldimensionalen Teilchen ausgeht, handelt die Stringtheorie von eindimensional ausgedehnten Objekten, so genannten Strings (engl.: Fäden, Saiten), deren Schwingungszustände den bekannten Elementarteilchen entsprechen. Da eine bestimmte Vibration eines geschlossenen Strings mit dem Graviton, dem Träger der Schwerkraft, identifiziert werden kann, gilt die Stringtheorie selbst als Ausdruck der Vereinigung von Quantenphysik und Gravitationstheorie.

Das allerdings hat seinen Preis. So erzwingt die Stringtheorie die Annahme einer zehndimensionalen Raumzeit, von der wir nur eine Zeitdimension sowie drei räumliche Dimensionen sinnlich wahrnehmen. Die restlichen sechs Raumdimensionen sind eng zusammengerollt und damit zu klein, um sie in einem heute realisierbaren Teilchenbeschleuniger nachweisen zu können. Auch die Stringlänge wird als so gering angenommen, dass die winzigen eindimensionalen Fäden mit den derzeitigen experimentellen Mitteln nicht von punktförmigen Teilchen zu unterscheiden sind.

Zwar definiere auch die Stringtheorie beobachtbare Größen, sagt der Münchner Physiker und Philosoph Richard Dawid. Allerdings gebe es keine Technologie, die deren praktische Messung in absehbarer Zeit gestatte. Dennoch vertreten Dawid und andere Physiker die Auffassung, dass die fehlende experimentelle Bestätigung der Stringtheorie kein Grund sei, diese anzuzweifeln oder gar aufzugeben. Im Gegenteil. Eine hinreichend elegante und erklärungskräftige Theorie müsse nicht zwangsläufig empirisch verifiziert werden, obgleich eine experimentelle Überprüfung natürlich immer wünschenswert sei. Zudem gebe es in Bezug auf die Vereinigung von Gravitationstheorie und Quantenphysik keine tragfähige Alternative zur Stringtheorie, meint Dawid. Und da sich alternativlose Theorien in der Vergangenheit oft bewährt hätten, sei es sinnvoll, auch die Stringtheorie als gültig zu akzeptieren. Tatsächlich beschäftigen sich heute rund tausend Personen mit der Entwicklung der Stringtheorie. Sie repräsentieren damit wahrscheinlich die zahlenmäßig stärkste Gruppe im Bereich der theoretischen Physik.

Scharfe Kritik an dem, wie sie sagen, »Eleganz-genügt-Prinzip«, üben dagegen der südafrikanische Mathematiker George Ellis und der in den USA und Frankreich lehrende Astrophysiker Joe Silk. In der Fachzeitschrift »Nature« (Bd. 516, S. 321) bestreiten sie, dass man grundlegende Wahrheiten über die Welt jenseits überprüfter Tatsachen ableiten könne. »Nicht alle Schlüsse, die sich aus der Mathematik logisch ziehen lassen, müssen auch auf die reale Welt zutreffen.« Für voreilig halten Ellis und Silk überdies die Aussage, dass es konzeptionell keine Alternative zur Stringtheorie gebe. Vielmehr habe man bisher nur noch keine andere, ähnlich elegante Theorie gefunden.

Die Behauptung, dass die mathematische Eleganz einer Theorie deren empirische Überprüfung gegebenenfalls überflüssig mache, ist keineswegs nur von fachinterner Relevanz. Der Öffentlichkeit wird damit zugleich ein falscher Eindruck davon vermittelt, wie Wissenschaft funktioniert. Darüber hinaus wäre eine Absenkung der methodischen Standards geradezu eine Einladung an viele Pseudowissenschaftler, die ihre Ideen ebenfalls gern mit dem Prädikat elegant oder überzeugend schmücken.

Als Reaktion auf den Artikel von Ellis und Silk trafen sich Ende letzten Jahres mehrere Physiker und Philosophen an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, um über den wissenschaftstheoretischen Status moderner physikalischer Konzepte zu diskutieren. Zu letzteren gehört auch die Theorie des Multiversums und mithin die Frage, warum die Naturkonstanten im Universum so exakt aufeinander abgestimmt sind, dass sich Leben entwickeln kann. An sich erscheint dies höchst unwahrscheinlich. Würde man nämlich die Werte einiger Naturkonstanten nur geringfügig verändern, wäre Leben nicht möglich. Die Theorie des Multiversums behebt dieses Dilemma, wenngleich auf höchst spekulative Weise. Danach gibt es neben unserem Universum unzählige weitere Paralleluniversen, in denen alle möglichen Werte der Naturkonstanten realisiert sind. Folglich muss, statistisch gesehen, »irgendwo« ein lebensfreundliches Universum existieren. Eine solche Theorie mag elegant anmuten. Sie impliziert allerdings, dass sämtliche Paralleluniversen für uns nicht beobachtbar sind.

Für die Vertreter der »postempirischen Wissenschaft« ist das kein Malheur. Sie gehen ohnehin auf Distanz zu der erstmals von Karl Popper erhobenen Forderung, dass eine wissenschaftliche Theorie prinzipiell falsifizierbar sein müsse. Dies sei, meint der US-Astrophysiker Sean Carroll, ein »plumpes Instrumentarium«. Eine gute Theorie sollte in erster Linie »präzise und eindeutige Aussagen über das Wesen der Realität« liefern. Und sie sollte »empirisch« sein dergestalt, dass sie mit den vorliegenden Daten übereinstimme. Das leistet die Stringtheorie zwar, jedoch liefern die bisher erhobenen Daten keinen Hinweis auf die besondere Qualität des Konzepts der eindimensionalen Fäden.

Wer den »Popperismus« so einfach über Bord werfe, kritisieren Ellis und Silk, beschädige den Ruf der Wissenschaft. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der wissenschaftliche Ergebnisse - von der Klimaforschung bis hin zur Evolutionstheorie - von Politikern und religiösen Fundamentalisten in Frage gestellt würden.

Aus historischer Perspektive betrachtet ist die Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten der Wissenschaft nicht neu. Schon früher habe es Rufe nach einer Reform der wissenschaftlichen Methodik gegeben, meint Helge Kragh, Wissenschaftshistoriker an der Universität Aarhus (Dänemark): »Doch alle Versuche, die empirische Überprüfung durch andere Kriterien zu ersetzen, sind fehlgeschlagen.« Man könnte nun einfach einwerfen, dass das Problem der fehlenden empirischen Überprüfbarkeit von Theorien nur wenige Bereiche der Physik betrifft. Oder, wie Kragh sagt: »Stringtheorie und Multiversumskosmologie sind nur ein kleiner Teil dessen, was man in der Physik tut.« Ein solches Argument ist jedoch nicht stichhaltig, denn es geht hier ums Prinzip. Wer dafür plädiert, die strengen methodischen Kriterien der Wissenschaft zu lockern, aus welchen Gründen auch immer, gibt damit ein Beispiel, das in anderen Disziplinen rasch Schule machen könnte.

Auch der französische Physiker Carlo Rovelli ist für eine klare Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Theorien, die durch empirische Belege gestützt werden, und solchen, die spekulativ sind: »Es ist sehr unangenehm, wenn Leute dich auf der Straße anhalten und fragen: Wusstest du schon, dass die Welt aus Strings besteht und dass es Paralleluniversen gibt?«

In ihrem »Nature«-Artikel thematisieren Ellis und Silk noch ein weiteres Problem, das in der Diskussion ansonsten kaum Beachtung findet, zumal damit das intellektuelle Selbstverständnis des Menschen berührt wird. Für viele, vermutlich sogar für die meisten Physiker besteht kein Zweifel, dass es eine einheitliche Theorie der Naturkräfte gibt und keine unüberwindlichen Hindernisse, diese zu finden. Wobei das Ergebnis nicht unbedingt ein Konzept nach Art der Strings sein muss. Woher aber nehmen wir überhaupt die Gewissheit, dass sich die Welt mit einer Theorie oder Formel vollständig beschreiben lässt? Ellis und Silk bleiben hier skeptisch: »Möglicherweise bedarf es gar keiner allumfassenden Theorie der vier fundamentalen Kräfte, wenn sich die Gravitation - verstanden als Krümmung der Raumzeit - von der starken, schwachen und elektromagnetischen Kraft zwischen den Elementarteilchen unterscheidet.« Ein solcher Ansatz mag das ästhetische Empfinden vieler Physiker verletzen. Allein an der Macht des Faktischen kommt letztlich auch die schönste Theorie nicht vorbei.

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