Geburtsakt mit Makel

Ein umstrittenes Datum - die Reichsgründung vor 145 Jahren. Von Kurt Wernicke

  • Kurt Wernicke
  • Lesedauer: 4 Min.

Preußen wollte bereits auf den Trümmern der brutal niedergeschlagenen 1848er Revolution seine Vormacht in der deutschen Staatenwelt etablieren und eine »Deutsche Union« unter Ausschluss Österreichs gründen. Dafür riskierten die Hohenzollern im Herbst 1850 gar einen deutschen Bruderkrieg, der nur durch ein Machtwort des Zaren verhindert wurde, dem ein unter preußischer Ägide geschmiedetes Staatenkonstrukt nicht zupass kam. Die Restauration belebte ergo den Deutschen Bund von 1815 wieder, in dem Österreich erneut das Wort führte.

Die Lage änderte sich mit der Berufung Otto von Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten im Herbst 1862. Der von ihm 1866 entfesselte Waffengang gegen Österreich und dessen deutsche Verbündete endete mit einem preußischen Sieg und erheblichem preußischen Territorialgewinn. Bismarck hob nun den Norddeutschen Bund aus der Taufe, einen Zusammenschluss der nördlich des Mains liegenden deutschen Staaten, der de facto ein Groß-Preußen mit vormoderner Staatsdoktrin war. Und doch war ein Fortschritt gegenüber dem alten Bund nicht zu übersehen: Das neue Staatengebilde verfügte über ein einheitliches Regierungsorgan, eine einheitliche Außenvertretung, ein einheitliches Militärwesen und ein Gesetzgebungsorgan, den Reichstag. Und dieser wurde - damals einzigartig in Europa! - nach gleichem und direktem Wahlrecht gewählt, das jedoch nur für Männer galt.

Mit Rücksicht auf den französischen Kaiser Napoleon III. wurden die drei deutschen Staaten südlich der Main-Linie (Baden, Bayern, Württemberg) vom Norddeutschen Bund als völkerrechtlich souverän anerkannt, aber zugleich an diesen durch geheime Schutz- und Trutzbündnisse gebunden. Solche waren allein in Anbetracht der erheblichen Antipathien der Bayern gegen die wachsende protestantische Macht im Norden geboten. Die Partikularisten in Bayern und Württemberg waren es dann auch, die einen Antrag zu Fall brachten, aus dem Zollverein die Einheit Deutschlands erwachsen zu lassen. Ein deutliches Signal für Bismarck und die bürgerliche Nationalbewegung, den deutschen Nationalstaat auf anderen Wegen anzustreben.

Dafür bot sich ein außenpolitisches Ereignis an, das Bismarck mit einer Provokation zu einem kriegerischen Konflikt aufbauschte. Er ermunterte die Spanier, einen Hohenzollern-Prinzen auf den vakanten Madrider Königsthron zu setzen, was in Paris traumatische Erinnerungen an die vormalige habsburgische Umklammerung weckte. Als die Krise bereits im Abklingen war (zwei in Aussicht genommene Prinzen hatten auf die Kandidatur verzichtet), fälschte Bismarck ein ihm aus Bad Ems zugegangenes Telegramm des preußischen Königs Wilhelm über eine Unterredung mit dem französischen Botschafter. Das veröffentlichte Dokument sollte und wurde in Frankreich als Fehdehandschuh aufgefasst. Frankreich erklärte dem Norddeutschen Bund den Krieg, dem nun die süddeutschen Staaten gemäß der geschlossenen Bündnisse beistehen mussten.

In deutschen Landen erklangen wieder die Lieder des antinapoleonischen Befreiungskrieges von 1813/14, die ohnehin in jedem Gesangs-, Schützen- und Turnverein eifrig gepflegt wurden. Eine patriotische Massenhysterie erfasste das deutsche Volk. Sie ließ den süddeutschen Partikularismus dahinschmelzen. In den preußisch-norddeutschen Aufmarsch gegen Frankreich wurden auch zwei bayerische Armeekorps integriert. Am 4. August 1870 begann die deutsche Offensive, die bereits am 1. September mit der Kapitulation der französischen Armee und der Gefangennahme Napoleons III. ihr (vorläufiges) Ende fand. Der Jubel über die Siege unter preußischer Führung begründete augenblicklich ein deutsches Nationalbewusstsein. Und die Frage war nicht mehr »ob«, sondern »wie« die deutsche Einheit erfolgen würde.

Bismarck setzte auf den einfachsten Weg: den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund. Was er noch im Oktober/November des Jahres in diplomatischen Verhandlungen erreichte, nicht ohne Bayern und Württemberg großzügig Sonderrechte zuzugestehen und den stets in Finanznöten steckenden König Ludwig II. persönlich zu schmieren. Wer auch immer in Süddeutschland sich der absehbaren Verpreußung des künftigen deutschen Nationalstaats verweigern wollte, stand auf verlorenem Posten. Das einheitliche Deutschland wurde so schon beim Geburtsakt mit einem entscheidenden Defizit belastet: Unter Missachtung des Volkes entschied sich das Groß-, Bildungs- und Besitzbürgertum für den Machtstaat à la Bismarck. Preußens König Wilhelm wurden von Staaten des Norddeutschen Bundes untertänigst gebeten, den Kaisertitel anzunehmen.

Nach den Ratifizierungsdebatten wurde der Termin für das Inkrafttreten der »Reichsverfassung« auf den 1. Januar 1871 festgesetzt. Der preußische König verfügte jedoch, dass die Zeremonie seiner Ausrufung zum Kaiser Wilhelm I. am 170. Jahrestag der Selbstkrönung des ersten preußischen Königs, also erst am 18. Januar stattfinden solle. Diese erfolgte - zur Demütigung der Franzosen - im Spiegelsaal des Versailler Schlosses; zwei Tage zuvor hat der Landtag in München seine Zustimmung erklärt.

Das hohenzollernsche Geschichtsbild stilisierte die Kaiserproklamation zum Gründungsakt des Deutschen Reichs. Dieser Legende hat das Bundesverfassungsgericht 1973 die These beigesellt, das Deutsche Reich existiere fort in der Bundesrepublik. Allein, Karlsruhe kann kein Völkerrecht schaffen. Das Reich ging 1945 unter. Folgerichtig kennt das Abschlussdokument der die deutsche Teilung beendenden Zwei-plus-Vier-Verhandlungen vom 29. September 1990 kein Deutsches Reich, sondern nur das vereinte Deutschland.

Unser Autor war stellvertretender Generaldirektor des Museums für Deutsche Geschichte (heute DHM).

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