Die Helden von Alawerdi

Eine Lehrerin, ein Fußballtrainer und ein Künstler kämpfen um die Zukunft ihrer armenischen Stadt

  • Jens Malling, Alawerdi
  • Lesedauer: 7 Min.
In Armenien kämpft die einst stolze Industriestadt Alawerdi gegen Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und Bevölkerungsrückgang. Es gibt auch Einwohner, die sich für die Zukunft engagieren.

Das Wasser ist weg. Bäume schießen aus dem Boden des Schwimmbassins in die Höhe. Sie sind von beachtlicher Höhe und könnten schätzungsweise 24 Jahre alt sein - die Zeit, die vergangen ist, seit die Sowjetunion offiziell zu Grabe getragen wurde. Ihr Zusammenbruch versetzte eine Industriestadt wie Alawerdi im Norden von Armenien in eine ernste Lage. Bergwerke und Fabriken entließen die Mehrheit der Arbeiter oder schlossen ganz. Niedergang und Verfall setzten ein. Die Zahl der Einwohner sank von 26 000 auf 13 000.

Viele der stilvollen Gebäude Alawerdis wurden zu Ruinen. Wie die einst schöne Sportanlage, wo jetzt Blätter auf den rissigen Beton herunterfallen. Die Startblöcke sind von Unkraut überwuchert und der Geruch der Blätterhaufen schwebt in der strengen Kälte. Zwischen den Bergen hängen schwere Wolken.

Armenien

Armenien liegt am Südrand des Kleinen Kaukasus mit Grenzen zu Georgien, Aserbaidschan, Iran und der Türkei. Es hat etwa die Größe Belgiens und zählt rund drei Millionen Einwohner.

Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg wurde im Jahre 1918 die Republik Armenien ausgerufen. Diese habe »unter Druck der Türken und der Bolschewiki im Jahre 1920 aufgehört zu existieren«, heißt es in der armenischen Geschichtsschreibung.

Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Ostarmenien wurde 1920 die Sowjetische Republik deklariert und Armenien 1922 in die Transkaukasische Sozialistische Föderale Sowjetrepublik aufgenommen. Seit 1936 war Armenien eine Sozialistische Republik im Bestand der UdSSR.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird offiziell als »Blütezeit des wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens Armeniens« bezeichnet. Die Informationstechnologie und die Industrie hätten sich entwickelt, bis die Veränderungen in der Sowjetunion der 1980er Jahre einen »unvermeidlichen Einfluss auf Armenien« hatten. Mit dem Zerfall der Union kam es am 21. September 1991 erneut zur Unabhängigkeitserklärung und der Umbenennung in Republik Armenien.

Die Stadt Alawerdi liegt in der Provinz Lori und war bereits um 1900 ein bedeutender Standort des Kupferbergbaus. Daraus entwickelte sich in der Sowjetunion ein Zentrum der Montanindustrie. Kupfer- und Chemiewerke wurden 1989 auch wegen der starken Umweltbelastung geschlossen.

Mit dem schweren Erdbeben des Jahres 1988 und dem Zusammenbruch der sowjetischen Industriestruktur begann eine schwere Wirtschaftskrise. Erst im Jahre 2004 wurde wieder das Niveau von 1988 erreicht. 2014 betrug das jährliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 3619 US-Dollar. Der monatliche Durchschnittslohn lag 2015 bei 379 US-Dollar. Die Arbeitslosigkeit wurde mit 19 Prozent angegeben. nd

Aus einem großen Gebäude in der Tumanjanstraße dringt plötzlich fröhlicher Lärm begeisterter Kinder. Drinnen hüpft ein Fußball über einen bröckeligen Holzfußboden. Erfreut und hingebungsvoll stürzt sich eine Gruppe von schwarzhaarigen Jungen wie ein Bienenschwarm auf die Lederkugel. Hinter den Toren hängen die Netze in Fetzen.

Die Dekoration an der Stirnwand der Sporthalle besteht aus fünf bis sechs Meter großen sowjetischen Sportlern mit olympischem Feuer in den Händen. Der Trainer trägt schwarze, spitze Schuhe und hat ein häufig klingelndes Telefon. Er gibt ein paar Anweisungen und ruft dann seinen Schützlingen immer wieder etwas zu.

»Der frühere Trainer zog nach Russland, wo er einen Job fand. Also habe ich seine Arbeit übernommen. Es war nur natürlich. Ich habe immer den Sport und die Arbeit mit den Kindern gemocht«, sagt der 35-jährige Arkadi Hanisjan während eines Eckstoßes. Außer den Acht- bis Zehnjährigen, die jetzt die Halle nutzen, ist er auch noch für die Mannschaften zweier weiterer Altersgruppen verantwortlich. »Insgesamt trainiere ich etwa 60 Kinder aus Alawerdi«, sagt er. »Sie haben Spaß, wie man sieht. Für mich ist es auch wichtig, dass sie in Form bleiben, glücklich aufwachsen und gute Menschen werden. Wie man miteinander umgeht und Rücksicht nimmt, lernen sie durch das Spiel. Und ich versuche, es ihnen beizubringen.« Weil das Sportangebot in der Stadt sehr eng begrenzt ist, werden Arkadis Fußballmannschaften nur noch beliebter.

»Die Lori-Region, in der sich Alawerdi befindet, ist leider die ärmste Armeniens. Ich mache mir Gedanken, was aus den Kinder wird. Eines unser ehemaligen Vereinsmitglieder spielt nun professionell in Jerewan, aber das kann nicht jeder. Wahrscheinlich werden viele von ihnen unsere Stadt verlassen«, sagt Arkadi Hanisjan.

Alawerdi liegt am Fluss Debed. Die Hauptstraße führt an ihm entlang und dann an einem kleinen Busbahnhof vorbei. In dem Univermag - einem Einkaufszentrum aus der Sowjetzeit - halten sich nur noch die Händler im Erdgeschoss. Große Plakate hinter den Fenstern werben noch immer für Haushaltsgeräte aus der UdSSR. Rechts daneben befindet sich das Kunstmuseum. Rafael Dschawachjan kommt aus dem Hinterzimmer, in dem sich sein Atelier befindet. Der 58-jährige Künstler ist auch Direktor des Museums. Er stellt die Sammlung vor: Gemälde, Fotografien und Skulpturen. »Wir haben wechselnde Ausstellungen mit den besten Künstlern Armeniens«, sagt er.

Einige Bilder spiegeln die Vergangenheit Alawerdis als blühende Industriestadt wieder. Motive von Fabriken, die in Rauch eingehüllt sind, veranschaulichen die Zeit Alawerdis als Stolz der Armenischen Sowjetrepublik. Bei der Förderung von Kupfer wurden Rekorde aufgestellt. Aus den Bergen der Umgebung lässt sich das Metall in großen Mengen fördern .

»Es war nie einfach, ein Künstler zu sein. Weder damals noch heute. Die Einnahmen sind bescheiden. Trotzdem bin ich zufrieden«, sagt Dschawachjan in seinem Atelier. Von Kunstbüchern, Leinwänden und Skizzen umgeben, schenkt er Armeniens berühmten Cognac ein. »Hauptsache ist, dass armenische Künstler sich nun frei äußern können, dass es keine Hindernisse mehr gibt, ins Ausland zu gehen und ihre Werke zu verkaufen. Früher war das sehr schwierig«, erinnert er sich. »Die sowjetischen Behörden gaben den Künstlern viel Arbeit. Sie beschäftigten sie auch damit, Statuen von Lenin zu schaffen. Ich war Student in den späten 1980er Jahren. Daher war es ein bisschen zu spät für mich, solche Skulpturen zu machen. Aber ab und zu wurde ich doch beauftragt, einen Lenin oder Soldaten der Roten Armee mit Waffen in den Händen zu zeichnen.«

Trotz des Abschwungs, der der Abwicklung der Sowjetunion folgte, hat Dschawachjan sich dafür entschieden, in Alawerdi zu bleiben. Er wollte sein Talent nutzen, um die Stadt mit seiner Kunst zu schmücken und mit ihrer Hilfe den Alltag der Bewohner zu verschönern. In den Straßen der Stadt begegnet man häufig seinen massiven Skulpturen.

Alawerdi ist eine der vielen postsowjetischen Industriestädte, die einen solchen Niedergang erlebt haben. Sie liegen wie ein mehrere tausend Kilometer langer Rostgürtel verstreut über die ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Massenarbeitslosigkeit, die auf einen Schlag kam, zog auch andere Übel nach sich: Armut, Kriminalität, Drogenabhängigkeit, Alkoholismus, Emigration und Krankheiten.

Besonders hart getroffen wurde im Südkaukasus Tschiatura in Georgien - eine Stadt, die einmal die gesamte Sowjetunion mit dem Metall Mangan versorgte. Aserbaidschans drittgrößte Stadt Sumqayit war früher das Zentrum der sowjetischen Chemieindustrie. Die dortige ökologische Katastrophe wird mit der von Tschernobyl verglichen. Als Folge der Desintegration der Produktion wurde die hochgebildete Arbeiterschaft der UdSSR auf einmal nutzlos. Spezialisten, für deren Ausbildung enorme Ressourcen benötigt wurden, mussten Arbeit als Putzfrau annehmen oder verkauften Plastikprodukte auf den lokalen Märkten.

Auf dem Busbahnhof von Alawerdi stehen die Taxifahrer und lehnen sich an ihre Autos. Mit großem Eifer versuchen sie, Kunden zu gewinnen. Nicht selten erweisen sich Männer am Lenkrad als Wirtschaftswissenschaftler oder Historiker. Die Fahrt über kann man sich gut mit den gebildeten und nachdenklichen Intellektuellen unterhalten. Am Ende kostet die Fahrt 500 Dram - weniger als ein Euro.

An einigen von Rafael Dschawachjans Freiluftskulpturen vorbei kommt man zu einem Zentrum, das die Neugier junger Menschen wecken und ihre Energie entfalten will. Der English Club Alawerdis hat sich zu einem Ort entwickelt, an dem die Jugendlichen der Stadt jene Eigenschaften erwerben, die dazu beitragen können, ihre Träume zu verwirklichen.

»In der Schule pauken die Studenten ausschließlich Grammatik. Sie lernen nicht, ordentliches Englisch zu sprechen. Aber die Jugendlichen wollen sich mit Ausländern unterhalten. Deswegen kommen sie zu uns«, sagt eine der Englischlehrerinnen des Clubs, die 23-jährige Susanna Simonjan, in einer Pause zwischen den Unterrichtstunden. Ein paar ihrer 13- bis 14-jährigen Schüler gehen durch die Tür mit Heften und Federtaschen in den Händen. Sie lassen keine Möglichkeit aus, ihre gerade neu erworbenen Sprachkenntnisse auszuprobieren: »How are you, what is your name?«

Mehrere Mitglieder des Clubs hoffen auf einen Austauschaufenthalt in Westeuropa oder in den USA. Vielleicht gelingt es ihnen sogar, dort einen Studienplatz zu bekommen. Aber der Wettbewerb um die Stipendien ist hart. Der Verein möchte Anregungen bieten und auch Möglichkeiten einer neuen Beschäftigung eröffnen, seit die Fabriken der Stadt nicht mehr nach Arbeitskräften fragen, so Simonjan. In der Umgebung von Alawerdi gibt es mehrere mittelalterliche Klöster, die in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen worden sind. Das sind bemerkenswerte Sehenswürdigkeiten, doch trotz solcher Attraktionen ist die Tourismusindustrie noch nicht ihren Möglichkeiten entsprechend entwickelt.

»Mit der Verbreitung von Englischkenntnissen bieten wir den Schülern eine Chance, für sich selbst zu sorgen. Denn die Beherrschung der englischen Sprache bietet die Möglichkeit, als Reiseführer zu arbeiten, den Touristen die Klöster des Debed-Tals zu zeigen und damit etwas Geld zu verdienen«, erklärt Simonjan und fügt hinzu: »Die Arbeit als Reiseführer ist fast die einzige Beschäftigung, die ich mir für meine Schüler hier in Alawerdi vorstellen kann.«

Teil des Unterrichts im Klassenzimmer ist eine Diskussion. Wenn dabei das Englische nicht ausreicht, wird auf Armenisch ergänzt. Die Lehrerin meint, dass es in Ordnung wäre, Alawerdi für einige Jahre zu verlassen, um zu studieren und seine Fähigkeiten zu entwickeln. Die jungen Menschen dürften aber nicht vergessen, wieder nach Hause zurückzukehren. »Wenn sie alle wegziehen, wird die Situation in der Stadt nicht besser«, sagt sie.

Ein lebhaftes Mädchen nimmt aktiv teil. Sie streckt ihre Hand aus, reibt den Daumen gegen den Mittel- und Zeigefinger, um zu fragen, wie sie Geld verdienen solle, würde sie dann jemals wieder nach Alawerdi zurückkehren. Das 13-jährige Mädchen träumt von einer Arbeit als Übersetzerin in Jerewan, erzählt sie auf Englisch. Ein weiteres Thema der Unterrichtstunde ist, ob die stark umweltverschmutzende Kupferfabrik Alawerdis vollständig geschlossen werden sollte. Dies würde der Umwelt zugute kommen, aber die letzten 500 Beschäftigten würden arbeitslos werden. Eine einfache Antwort scheint es nicht zu geben.

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